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Klare Mehrheit für Ennahda?

Hohe Beteiligung bei ersten Wahlen nach der Diktatur in Tunesien

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Mit großer Beteiligung ist in Tunesien die erste Wahl nach dem Sturz des langjährigen Herrschers Zine El Abidine Ben Ali am Sonntag zu Ende gegangen.

Nach ersten Angaben gaben bis zu 90 Prozent der 4,1 Millionen registrierten Wähler ihre Stimme ab, insgesamt sind sieben Millionen stimmberechtigt. Offiziellen Angaben zufolge leben in Tunesien elf Millionen Menschen. Internationale Fernsehsender zeigten lange Schlangen vor den Wahllokalen, 40000 Polizisten und 13000 nationale und internationale Beobachter waren im Einsatz. Für die 217 Sitze der am Sonntag gewählten parlamentarischen Versammlung waren 11000 Kandidaten aus 80 Parteien angetreten, 50 Prozent von ihnen Frauen, Tausende als Unabhängige. Aufgabe der Versammlung ist die Ernennung einer Übergangsregierung und die Ausarbeitung eines Grundgesetzes.

Der Leiter der Wahlkommission Kamel Jendoubi sagte, die Wahlbeteiligung habe »alle Erwartungen übertroffen«. Aufmerksam wurde Salem Bouazizi, der Bruder des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, von den Medien bei seinem Wahlgang in der Hafenstadt Sfax verfolgt. Die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi Ende 2010 hatte die Massenproteste in Tunesien ausgelöst, die schließlich mit der Flucht Ben Alis nach Saudi-Arabien endeten. Das Opfer seines Bruders sei »nicht umsonst« gewesen, sagte der Zimmermann den Reportern. Er sei »stolz, ein Tunesier zu sein«.

Beobachter rechnen mit einer klaren Mehrheit von etwa 30 Prozent für die islamische Ennahda-Partei. Ennahda verfügt trotz langjährigen Verbotes in Tunesien über ausreichende Finanzen und eine gute Organisierung. Wie alle Parteien der Muslimbruderschaft in der arabischen Welt hatte Ennahda im sozialen Bereich ein enges Netz in der tunesischen Gesellschaft geknüpft. Obwohl die islamische Organisation politisch verfolgt wurde, duldete der Staat ihr soziales Engagement, das die mangelhafte staatliche Politik auf diesem Sektor abfederte. Linksgerichteten Kräften war es nicht gelungen, ein Wahlbündnis zu bilden, auch davon dürfte Ennahda profitieren.

Als der Vorsitzende von Ennahda, Raschid Ghannouchi, am Sonntag in Al-Menzeh, einem Vorort von Tunis, an der Warteschlange vorbei zum Wahllokal ging, wurde er von einigen der Wartenden beschimpft und aufgefordert, sich hinten anzustellen: »Demokratie beginnt hier«, riefen sie, woraufhin Ghannouchi ihnen Folge leistete.

Den arabischen Staaten waren die Wahlen nur eine Randmeldung wert. Überall liegt die Wirtschaft am Boden, die Arbeitslosigkeit steigt. In den Golfstaaten wünscht man keine Aufmerksamkeit für demokratische Entwicklungen, in Syrien fürchten die Menschen einen Bürgerkrieg, in Ägypten sorgen Konflikte mit dem Militärrat für anhaltende Spannungen. Sowohl Ägypten als auch Tunesien haben zudem weiterhin Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus Libyen zu versorgen. Dieses feierte in inernationalen Fernsehkanälen zwar »die Befreiung«, doch das Land ist intern tief gespalten. Bis auf die Ölförderanlagen wurde die Infrastruktur durch Zehntausende NATO-Luftangriffe zerstört, bis zu 50000 Menschen wurden getötet.

Unter den fortschrittlichen und säkularen Kräften Nordafrikas und im Mittleren Osten sorgt man sich zudem um ein Erstarken der Parteien der Muslimbruderschaft, die finanziell von Saudi-Arabien und Katar unterstützt werden. Unter Berufung auf die als moderat geltende türkische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bieten sich die Parteien in Tunesien, Ägypten und Syrien dem Westen als neue politische Alternative an. Auch die AKP ist eine Partei der Muslimbruderschaft.

* Aus: junge Welt, 25. Oktober 2011


Tunesien: Erfolg der Religiösen wahrscheinlich

Ennahdha-Bewegung liegt bei der Auszählung vorn **

Bei der ersten freien Wahl in Tunesien seit dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali im Januar hat die Beteiligung alle Erwartungen übertroffen. Mehr als 90 Prozent der 4,1 Millionen registrierten Wähler hätten ihre Stimme bei der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung abgegeben, sagte Boubaker Bethabet von der Wahlkommission am Sonntagabend. Das Ergebnis soll am heutigen Dienstag verkündet werden.

Ein Führungsmitglied der Partei Ennahda, das anonym bleiben wollte, sagte am Montag (24. Okt.) in Tunis, man werde mindestens 60 der insgesamt 217 Sitze erzielen. Die Gewählten sollen eine neue Verfassung ausarbeiten und einen neuen Staatschef bestimmen, der dann den Chef einer Übergangsregierung ernennen soll.

Beobachtern zufolge wird Ennahda stärkste Kraft, aber nicht über eine Mehrheit in der Versammlung verfügen. Ihre Kritiker halten Ennahda vor, sie wolle einen fundamentalistischen Weg beschreiten, die Frauenrechte und die Meinungsfreiheit beschneiden. Die Führung von Ennahda jedoch vergleicht sich am liebsten mit der türkischen Regierungspartei AKP. Die tunesischen Zeitungen würdigten ausgiebig die hohe Beteiligung. Dies sei ein »Triumph« für die Demokratie und ein »Beispiel« für den »Arabischen Frühling«.

Vor den Wahllokalen hatten sich am Sonntag lange Schlangen gebildet. 4,1 Millionen eingetragene Wähler und 3,1 Millionen weitere Wahlberechtigte waren landesweit zu der von umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen begleiteten Wahl aufgerufen. Übergangspräsident Foued Mebazaa kündigte in der Zeitung »Al-Sabah« an, sich nach der Wahl endgültig aus der Politik zurückziehen zu wollen. Die jetzige Führung will solange an der Macht bleiben, bis die Versammlung einen neuen Präsidenten ernennt. Dies wird nicht vor dem 9. November erwartet.

* Aus: neues deutschland, 25. Oktober 2011


Sieg der Wiedergeborenen

Von Roland Etzel ***

Ennahda - die Partei der (islamischen) Wiedergeburt fühlt sich als Gewinnerin des Votums in Tunesien. Und das völlig zu recht. Wenn bei der freiesten aller bisher im Lande stattgefundenen Wahlen und einer 90-prozentigen Beteiligung fast jeder dritte Wähler sie als maßgebliche Kraft bei der Formulierung einer neuen Verfassung sehen will, lässt das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Dies mag manche überrascht haben, die entsprechend der auch in Deutschland gepflegten Tunesien-Berichterstattung glaubten, Hauptsympathieträger müssten jene Internet-Blogger und Twitter-Aktivisten sein, denen zugeschrieben wird, die Revolution im Ben-Ali-Land ausgelöst zu haben. Mag letzteres auch zutreffen, Grundvertrauen bei der Wählermehrheit erwuchs daraus offensichtlich nicht. Es spricht sogar einiges dafür, dass dieses künftig eher ab- als zunimmt. Das stärkste Bindeglied zwischen der Jugend in der Metropole Tunis und den touristischen Zentren einerseits und der Masse der Leute auf dem »flachen Lande« andererseits - der Hass auf die raffgierige Präsidentensippe - ist obsolet geworden. Das Trennende wird wieder deutlicher sichtbar.

So betrachtet die traditionell geprägte Bevölkerungsmehrheit die unter Ben Ali verordnete Zwangsverwestlichung nicht unbedingt als Gewinn. Die Vertreter von Ennahda - hierzulande mit der Absicht der Verunglimpfung Islamisten genannt - lehnten diesen Anbiederungskurs stets ab. Heute wird den Führern der religiösen Vereinigung honoriert, dass sie sich weder von der Staatsmacht - wie die meisten Angehörigen der Elite - korrumpieren ließen noch vor der drohenden Todesstrafe kapitulierten. Das erklärt, warum sie dem Westen so suspekt sind.

*** Aus: neues deutschland, 25. Oktober 2011 (Kommentar)


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