Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tunesiens Unvollendete

Zwei Jahre nach dem Sturz Ben Alis steht das Land am Scheideweg

Von Pepe Egger *

Zwei Jahre nach dem Umsturz ist Tunesien ein gespaltenes Land im Übergang: Während die Gewerkschaften und die Linke die Revolution zu voll-enden trachten, verhandeln die Islamisten in der Übergangsregierung ein Beistandsabkommen mit dem IWF.

Das Gedenken zum zweiten Jahrestag des Sturzes der Gewaltherrschaft von Präsident Ben Ali in Tunis war zweigeteilt: Auf der Avenue Habib Bourguiba im Zentrum der Hauptstadt trafen die Anhänger der vormals verbotenen und nun regierenden Partei Ennahdha auf Militante der Linken, der Volksfront und anderer Gruppen. Beide feierten die Revolution und verhöhnten das jeweils andere Lager. Das war am 14. Januar.

Der Kampf um das Erbe der Revolution, um die Bedeutung des Umsturzes, ist voll entbrannt und noch ist unklar, wer ihn gewinnen oder welcher Kompromiss aus dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren resultieren wird.

Samir Chafi, stellvertretender Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes UGTT, konstatiert: »Die Revolution ist noch nicht voll-endet; wir haben zwar den Kopf des früheren Regimes abgesetzt, aber die Revolution hat ihre Ziele noch nicht erreicht.« Tunesien befinde sich in einer Phase des Übergangs und brauche einen nationalen Konsens, um die Ziele der Revolution durchzusetzen.

Es mehren sich die Stimmen, die der Übergangsregierung, angeführt von der moderat-islamistischen Ennahdha, vorwerfen, sie habe keine Antworten auf die Forderungen der Revolution und sei nicht imstande, die drängenden sozioökonomischen Probleme zu lösen und vor allem die Arbeitslosigkeit zu mindern. Nur in einem sind sich viele einig: Inkompetenz und mangelnde Erfahrung der Regierung stehen ihrer Arbeit zusätzlich im Wege.

Für Schlagzeilen sorgen vor allem die Versuche der religiösen Rechten, dem Verfassungsentwurf islamistische Elemente einzuschreiben, die manche der Errungenschaften auf dem Gebiet der individuellen Rechte wieder beschränken würden. Noch mehr Aufsehen erregte eine Reihe von Übergriffen und Brandanschlägen, darunter der Sturm auf die US-Botschaft im September. Der jüngste Vorfall dieser Art trug sich am Vortag des Revolutionsjubiläums am 13. Januar zu. Ziel war das Mausoleum von Sidi Bou Said, eine Touristenattraktion unweit der Hauptstadt, die durch ein Feuer beschädigt wurde. Es mag daran liegen, dass eine Serie von Bränden bereits andere Denkmäler volkstümlicher Heiliger verwüstet hat und salafistische Aktivisten auch hinter diesem Anschlag vermutet wurden - jedenfalls ertönte nach dem Brand in Sidi Bou Said reflexhaft der Warnruf: »Salafisten!«

Mohamed Jmour, Sprecher der Patriotischen und Demokratischen Partei der Arbeit, die sich mit anderen linken Gruppierungen zu einer Volksfront zusammengeschlossen hat, findet: »Die Verfassungsfrage ist nicht geklärt. Es gibt einen dauernden Kampf um die Islamisierung des Staates. Aber das interessiert nur die Parteien, die politische Klasse. Der Bevölkerung ist es völlig egal, vor allem den ärmeren Schichten, die hauptsächlich damit beschäftig sind, Arbeit zu finden und den Bedarf am Nötigsten zu decken.«

Dabei seien allerdings die Islamisten von Ennahdha auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik neoliberal, sie privatisierten die von Ben Ali und seinen Hofschranzen beschlagnahmten Unternehmen und setzten alles daran, um auch die Staatsschulden, die von Ben Alis Regierungen angehäuft wurden, bis zum letzten Dinar zurückzuzahlen. In der Tat steht die Übergangsregierung auch schon länger in Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und wird in den nächsten Wochen ein Beistandsabkommen abschließen, das eine Haushaltspolitik ganz nach dem Geschmack des IWF belohnen wird.

Ungewiss ist, wie lange die Übergangsregierung noch im Amt bleibt. Im Laufe des Jahres soll es Wahlen geben, ein Verfassungsentwurf muss auf den Weg gebracht werden. Wird es dafür einen gemeinsamen Fahrplan von Islamisten, Linken und Vertretern des alten Regimes geben? Als Mahnung für den Fall eines Scheiterns dient das Beispiel Ägypten mit dem dortigen Verfassungskonflikt zwischen dem muslimisch geprägten Präsidenten und dem säkular orientierten Teil der Gesellschaft.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Januar 2013


Zurück zur Tunesien-Seite

Zurück zur Homepage