Stunde der Wahrheit für "Wüsten-Ceausescu"
Protestwelle in Tunesien setzt Präsident Ben Ali unter Druck / Menschenrechtler: Haltung des Westens inakzeptabel
Von Abida Semouri, Algier *
In der Nacht zum Donnerstag (13. Jan.) lieferten sich jugendliche Demonstranten und Sicherheitskräfte trotz
einer nächtlichen Ausgangssperre in Vororten von Tunis erneut gewaltsame Auseinandersetzungen.
Bei den Unruhen in Tunesien sollen bislang mindestens 66 Menschen ums Leben gekommen sein.
Die seit Wochen anhaltende Protestwelle in Tunesien ist vor den Toren des Machtzentrums
angelangt. Über die Hauptstadt Tunis wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. In den
Straßen der Stadt sind Militär und polizeiliche Einsatzkommandos stationiert. Ungeachtet dessen ist
es in den Vororten zu neuen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen.
Auch die Entlassung des Innenministers und die Freilassung aller während der Zusammenstöße
verhafteten Personen durch Präsident Ben Ali hat die Lage nicht beruhigen können. Zu groß ist die
Wut der vor allem jugendlichen Demonstranten und zu gewaltsam die Reaktion der Machthaber.
Für Ben Ali, der seit 23 Jahren das Land mit harter Hand regiert, scheint die Stunde der Wahrheit
gekommen. Die systematische Unterdrückung jeglicher Opposition hat einen friedlichen Dialog
verhindert und der Bevölkerung nur noch einen Weg gelassen, sich Gehör zu verschaffen, den der
Gewalt. Was bislang unter weitgehendem Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit geschah, ist
nun nicht mehr zu verbergen. Von Anfang an war der Protest nicht nur sozialer Natur, sondern hatte
seine Ursachen vor allem auch in der Frustration über die systematische Einschüchterung der
Bevölkerung durch einen allgegenwärtigen Polizei- und Spitzelapparat. »Die Menschen auf der
Straße fordern den Rücktritt des Präsidenten«, sagte am Donnerstag die tunesische Anwältin
Mounia Ben Alia. »Die Sicherheitslage ist äußerst beunruhigend und hat ein gefährliches Stadium
erreicht.«
Unterdessen hat sich die Situation im Nachbarland Algerien wieder beruhigt. Auch hier hatte sich der
Unmut über Arroganz und Vetternwirtschaft der Machthaber gewaltsam Luft gemacht. Auch hier
sehen vor allem junge Leute Gewalt als einziges Kommunikationsmittel, das die Machthaber
verstehen. »Der Staat bezeichnet die Demonstranten als Randalierer und Zerstörer, aber der größte
Zerstörer ist der Staat selbst«, schrieb dieser Tage der Kolumnist der Tageszeitung »El Watan«. »Er
hat ein ganzes Land und dessen Gesellschaft zerstört, die Staatskasse geplündert und Tausende
außer Landes getrieben.« Auch der Präsident der algerischen Menschenrechtsliga, Mostefa
Bouchachi, sieht die Unruhen als Resultat der Ignoranz der Machthaber. »Diejenigen, die jetzt
revoltieren, sind die Kinder des Ausnahmezustandes, der seit 19 Jahren hier herrscht und der
jegliche Aktivität von Politik und Zivilgesellschaft unterbindet.« Zugleich wirft er den westlichen
Regierungen Heuchelei vor. »Die Haltung des Westens ist inakzeptabel. Menschenrechte werden
selektiv eingefordert. Während der Fall Iran ständig an der Tagesordnung ist, verschließt man
gegenüber den Diktaturen im Maghreb die Augen.«
Wirtschaftsinteressen verhinderten bisher, offen die Unterdrückung der Menschenrechte zu
kritisieren. Daran hielten sich in erster Linie die drei wichtigsten Handelspartner Tunesiens –
Frankreich, Italien, Deutschland. Während sich Paris offiziell mit einer Verurteilung der Repression
zurückhält, hat ein Parlamentsabgeordneter der Grünen Klartext geredet. Er nannte Ben Ali »Wüsten-Ceausescu«.
* Aus: Neues Deutschland, 14. Januar 2011
Musterschüler
Als er 1987 die Macht übernahm, war Zine el-Abidine Ben Ali im Wortsinne ein Überraschungscoup
gelungen. Mit seinem Putsch hatte kaum jemand gerechnet, nicht die arabischen Nachbarn, nicht
die Freunde in Westeuropa und offensichtlich auch nicht der »Präsident auf Lebenszeit«, Habib
Bourguiba. Dessen Absetzung verlief geräuschlos, unblutig und – jedenfalls nach außen hin –
beinahe harmonisch. Die Sicherheitsleute des Präsidenten musste Ben Ali nicht fürchten, denn
deren Chef war er als ehemaliger Geheimdienstboss und Innenminister lange selbst gewesen.
Ben Alis Karriere, heute 74-jährig, gleicht der der meisten in jener Zeit an die Macht gelangten
arabischen Präsidenten: Geboren in ärmlichen Verhältnissen – in seinem Fall in der Ostküstenstadt
Sousse –, nach der Schule Eintritt in die Armee, Ausbildung auch in Frankreich und den USA zum
Offizier, nach Rückkehr Berufung auf Regierungsposten. Als er putschte, war er schon
Ministerpräsident.
Die Beunruhigung darüber in Bonn, Paris und Rom war damals nur kurz. Tunesien als Hort der
Unternehmerfreundlichkeit zwischen den dem Westen suspekten Revolutionsregierungen in
Algerien und Libyen gelegen, dazu als preiswerte Urlaubsalternative zum nördlichen Mittelmeer blieb
ihnen erhalten. Und mehr als das. Ben Ali war geradezu ein marktwirtschaftlicher Musterschüler,
großzügig gegenüber Kapitalflüssen, hart gegen Gewerkschaften.
Gegen Versuche, dem Islam im politischen wie im öffentlichen Leben zu einer Renaissance zu
verhelfen, ging Ben Ali mit eiserner Faust vor, verhinderte so zwar ein Abgleiten des Landes in
Bürgerkrieg und Terror wie es Algerien in den 90er Jahren erlitt, allerdings erledigte er gleichzeitig
sämtliche politische Opposition im Lande. Er änderte die Verfassung, um gewählt und wiedergewählt
werden zu können, wurde es mit Ergebnissen zwischen 89 und 95 Prozent. Seit 2009 steht er in
seiner fünften Amtszeit. Kritische Kommentare der westlichen Wertegemeinschaft blieben Ben Ali
stets erspart. Erst jetzt, wo Demonstranten dem nunmehr 24-jährigen System Ben Ali unüberhörbar
Korruption, Miss- und Vetternwirtschaft vorwerfen, bemerkt man das auch in der EU und runzelt
etwas die Stirn.
Roland Etzel
Quelle: Neues Deutschland, 14. Januar 2011
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