Diese Regierung wird versinken wie die Titanic
ND-Gespräch mit dem Oppositionspolitiker Moncef Marzouki
Der 65 Jahre alte Moncef Marzouki gehörte zu den ersten Oppositionellen, die nach dem Sturz von
Präsident Zine el-Abidine Ben Ali aus dem Exil in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Der Doktor der
Medizin war Präsident der Tunesischen Menschenrechtsliga und steht der bisher verbotenen Partei
Kongress für die Republik vor. Unmittelbar nach seiner Rückkehr kündigte er seine Kandidatur für
das Amt des Staatspräsidenten an. Für Neues Deutschland sprach mit ihm in Tunis Claudia Altmann.
Haben Sie nach so vielen Jahren im Exil noch an eine Rückkehr geglaubt?
Manchmal habe ich tatsächlich befürchtet, dass ich im Exil sterben werde. Das schlimmste ist, wenn
man ohne Hoffnung kämpft. Dieses Regime schien sich für die Ewigkeit eingerichtet zu haben. Ben
Ali wollte 2014 noch einmal antreten. Dann war die Rede davon, dass seine Frau Präsidentin
werden will, und plötzlich bricht alles zusammen. Für mich ist es das außergewöhnlichste Ereignis
meines Lebens. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ein freier Mann in einem freien Land.
Sie bezeichnen die Ereignisse als revolutionär?
Ja, weil sich die ganze Denkweise und die Art der Menschen völlig verändert haben. Als ich
weggegangen bin, hatten alle Angst und wagten es nicht, den Mund aufzumachen. Sie fühlten sich
minderwertig, ohnmächtig und haben sich selbst verachtet, weil sie es nicht schafften, für ihre
Freiheit zu kämpfen. Sie hatten ein schlechtes Bild von sich, von ihrem Land, von ihrer Regierung.
Das hat sich komplett gewandelt. Jetzt reden die Leute, sie tun alles, damit man ihnen nicht ihre
Revolution stiehlt. Es hat eine Revolution in der Mentalität und in den Herzen stattgefunden. Was wir
jetzt brauchen, ist eine Revolution der politischen Strukturen. Das Volk hat den Diktator verjagt, und
nun verjagt es die Reste der Diktatur.
Was halten Sie von der Übergangsregierung?
Nichts. Ich glaube, diese Regierung wird die nächsten Tage nicht überleben. Alles, was sie
beschließt, ist zu spät und zu wenig. Mohammed Ghannouchi war Regierungschef des Diktators und
hat zehn Jahre für ihn Politik gemacht. Als Wirtschaftsminister hat er schweigend zugeschaut, wie
die Trabelsis (die Familie von Ben Alis Frau – C. A.) das Land bestohlen haben. Und als Ben Ali
schon geflohen war, hat er noch mit ihm telefoniert und ihn über die Situation im Lande informiert.
Dieser Mann sagt jetzt, er würde den demokratischen Wandel vollziehen?
Das tunesische Volk will diese Regierung nicht. Auch die RCD ist de facto vom Volk schon für
aufgelöst erklärt worden. Überall protestieren die Menschen gegen die Ben-Ali-Partei und die
Mitglieder treten aus. Die bisherige Regierungspartei RCD geht unter wie die Titanic. Es kann nicht
sein, dass das System, das die Menschen gestern ins Gefängnis geworfen hat, heute großzügig
sagt: Wir geben euch die Freiheit.
Aber in der Regierung sind auch frühere Oppositionelle.
In einer Diktatur gibt es keine Opposition. Es gibt nur zivilen oder militärischen Widerstand. Diese
Parteien waren vom diktatorischen System zugelassen. Die wahren Oppositionsparteien, wie meine
Partei, die Islamisten und die Kommunisten, sind nicht vertreten.
In welchem Zustand befindet sich Ihre Partei nach den Jahren der Illegalität?
Ich habe mich sofort nach meiner Rückkehr ins Landesinnere begeben und bin der »Straße der
Revolution« – so nenne ich alle Städte und Dörfer, in denen es Tote gegeben hat – gefolgt. Der
Empfang, den mir die Menschen bereitet haben, macht mich sehr optimistisch. Viele Leute wollen
dem Kongress für die Republik beitreten, weil wir zur ernstzunehmenden Opposition gehören. In 23
Jahren Diktatur sind die oppositionellen Kräfte zerrieben worden. Jetzt müssen sie sich neu
formieren. Dieser Prozess läuft gerade in blitzartiger Geschwindigkeit ab.
Sollten dazu auch die Islamisten gehören?
Ja. Ben Ali hat alles getan, um sie auszurotten. Aber sie sind ein Teil unserer Gesellschaft. In
Tunesien ist die islamistische Partei zum Glück moderat und demokratisch. In Europa nimmt auch
niemand Anstoß an christlich-demokratischen Parteien. Warum also sollte hier eine islamodemokratische
Partei jemanden schockieren? Die Leute in Europa verwechseln Terrorismus mit
Islamismus. Der Islamismus umfasst ein sehr breites Spektrum, das von den Taliban bis zu
Verfechtern demokratischer Prinzipien reicht. Terroristen sind etwas anderes. Sie sind für alle
gefährlich, zuallererst für die Muslime selbst.
Vergessen wir nicht, dass in Tunesien schon immer eine moderate und tolerante Form des Islam
praktiziert wird. Wir sind ein junges Land, aber ein altes Volk, das in 3000 Jahren gelernt hat, den
anderen zu respektieren. Es gibt hier Kirchen. Wir bedauern sehr, dass wir mit dem Weggehen des
Großteils der jüdischen Gemeinschaft einen Teil unserer Gesellschaft verloren haben.
Sie wollen Präsident Tunesiens werden?
Ja, wenn es demokratische Wahlen geben sollte, werde ich für das Amt des Staatspräsidenten
kandidieren. Zunächst fordern wir jedoch eine neue Verfassung, ein neues Wahlgesetz, also absolut
sichere Garantien für faire Wahlen.
Wie wird Ihr Programm aussehen?
Wir haben aus den Zeiten der Diktatur gelernt. Zuallererst stehen wir für Freiheit und den Kampf
gegen Korruption, die das Land ruiniert hat. Ich fordere die Schaffung eines unabhängigen
Nationalen Rates, der als zentrales Kontrollgremium über die Aktivitäten der Regierung, die
öffentlichen Gelder und die Konten von Präsident und Ministern wacht. Was die Wirtschaft
anbelangt, so müssen wir die Unsummen, die die Mafia beiseite geschafft hat, wieder zurückholen.
Dabei kann uns Europa helfen. Ich hoffe, dass Europa künftig die Frauen und Männer, die Tunesien
regieren werden, als Partner und nicht wie bisher als »Kunden« betrachtet, so wie es das in seinen
Beziehungen mit Diktatoren ja tut.
Was ist Ihre Botschaft an die Jugend Tunesiens?
Ich danke dieser Jugend. Dank ihrer Opfer konnte ich in meine Heimat zurückkehren. Sie haben
zugleich meine volle Bewunderung, mit welcher Geschwindigkeit sie die moderne Technologie in
den Dienst dieser Bewegung gestellt haben. Und ich bitte sie um Verzeihung. Ich gehörte zu jenen,
die nicht viel von dieser in meinen Augen unpolitischen Jugend gehalten haben. Ich habe mich
geirrt. Aber darüber bin ich sehr froh.
* Aus: Neues Deutschland, 25. Januar 2011
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