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Tunesien: Die Diktatur erhält Verfassungsrang

Von Werner Ruf*

Zum zweiten Male hat Zine Abdine Ben Ali die Verfassung Tunesiens reformiert. Dafür wurde es allmählich Zeit, denn laut der am 25. Juli 1988 geänderten Verfassung wäre die Amtszeit des Präsidenten im Jahre 2004 zu Ende gegangen - viel zu früh für den 1936 geborenen Ben Ali, der offenbar noch von großem Tatendrang an der Spitze der Nation beseelt ist. Und wie gewohnt huldigte das verängstigte Volk dem Oberhaupt eines perfekt organisierten Polizeistaates: Die übliche Zustimmung von 99,52 % der Bürgerinnen und Bürger, die sich zu 95,59 % an der Abstimmung beteiligten, stellten in der Tat "keine Überraschung" dar, wie der Innenminister bei der offiziellen Bekanntgabe des Wahlergebnisses stolz die zuverlässige Arbeit seiner Behörde erklärte. In der Tat: Auch die bisherigen Ergebnisse der Präsidentenwahlen pendelten stets um die 99,5 %.

Durch die neue Verfassung hat Ben Ali eine wesentliche Bestimmung der von ihm selbst "reformierten" Verfassung aus dem Jahre 1988 beseitigt: Sein Amtsvorgänger Habib Burgiba, der "Oberste Kämpfer" hatte nämlich die 1959, also drei Jahre nach der Unabhängigkeit, in Kraft getretene Verfassung 1969 dahingehend ändern lassen, daß seine Präsidentschaft auf Lebenszeit festgeschrieben wurde. Ben Ali hatte den vergreisten Burgiba in einem "medizinischen Staatsstreich" am 7. November 1987 abgesetzt, indem er ihn auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens für regierungsunfähig erklärte. War schon die alte Verfassung extrem autoritär auf die Person des Präsidenten zugeschnitten gewesen, so hatte Ben Ali die Kompetenzen des Präsidenten noch erweitert, indem wichtige Vollmachten des Ministerpräsidenten an den Staatspräsidenten übertragen wurden. Nun mußte nur noch jener Makel beseitigt werden, der nach dem Putsch Ben Alis die Abschaffung der Präsidentschaft auf Lebenszeit notwendig gemacht hatte. Doch wäre es nicht im Sinne Ben Alis gewesen, den seine Untertanen verächtlich "Präsident Abitur minus drei" nennen, wenn er die Verfassungsänderung nicht gleich noch zur konstitutionellen Erweiterung seiner ohnehin schier totalitären Kompetenzen genutzt hätte.

Die entscheidenden Innovationen sind:
  • Die bisherige Bestimmung, wonach der amtierende Präsident zweimal für weitere Amtsperioden von fünf Jahren wiedergewählt werden kann, wird ersetzt durch die Bestimmung, daß das Höchstalter für die Kandidatur 75 Jahre beträgt. Auf diese Weise kann Ben Ali noch zweimal kandidieren und bis zum Jahr 2014 im Amt bleiben.
  • Der Artikel 41 der Verfassung wird dahingehen geändert, daß der Präsident strafrechtliche Immunität während seiner Amtszeit erhält. Diese gilt auch "nach Ende seiner Funktionen für Taten, die er während der Ausübung seiner Funktionen begangen hat." Den kleptokratischen Zügen des Regimes und der Habgier seiner Ehefrau werden hiermit der konstitutionelle Persilschein ausgestellt.
  • Zur bisher alleinigen Kammer des Parlaments (Abgeordnetenkammer) wird eine zweite (Kammer der Räte) kommen. Ihre Mitglieder setzen sich folgendermaßen zusammen: Je nach Bevölkerungszahl wählen die Regierungsbezirke (gouvernorats) je einen oder zwei Abgeordnete. Ein weiteres Drittel der Abgeordneten wird paritätisch von den Arbeitgeber-, den Landwirtschafts- und den Arbeitnehmerorganisationen gewählt. Diese sind, wie auch die Gemeinden und Regierungsbezirke, fest in den Händen der Quasi-Einheitspartei RCD (Rassemblement Constitutionnel Démocratique). Den Rest der Mitglieder der Kammer, die zwei Drittel der Abgeordnetenkammer nicht übersteigen darf, ernennt der Präsident, indem er sie "unter den nationalen Persönlichkeiten und Kompetenzen" auswählt. (Art. 19).
  • Während der Parlamentsferien kann der Präsident in eigener Vollmacht Gesetze erlassen, die später den beiden Kammern zur Billigung vorgelegt werden (Art. 31).
  • Geändert wird schließlich der Artikel 15, der bisher "die Verteidigung des Vaterlandes und der Integrität des Territoriums" als eine "heilige Pflicht für jeden Bürger" betrachtete; nunmehr wird er folgendermaßen lauten: "Jeder Bürger hat die Pflicht, das Land zu beschützen und seine Unabhängigkeit, seine Souveränität und die Integrität des nationalen Territoriums zu erhalten. Die Verteidigung des Vaterlands ist eine heilige Pflicht für jeden Bürger."
Auf den ersten Blick wird hier nicht ganz deutlich, worin der Unterschied gegenüber der alten Verfassungsbestimmung bestehen soll. Hierauf wird unten zurückzukommen sein.

Reform oder konstitutioneller Staatsstreich

Selbst bei ungenauem Hinsehen handelt es sich weniger um eine "Reform" als um einen konstitutionellen Staatsstreich: In der Tradition bürgerlich-demokratischen Staatsverständnisses sind Verfassungen Instrumentarien zur Sicherung der Demokratie, der Legitimität der Regierung und der Herrschaft des Rechts. Im vorliegenden Falle jedoch wird die Verfassung zu einem Werkzeug präsidialer Willkür, zum Instrument der Diktatur. Diese konstitutionell abgesicherte Diktatur, die die Staatsspitze und deren korrupte Praktiken jeder Kontrolle und Kritik entzieht, läuft geradezu auf die Aneignung des Staates hinaus. In Abwandlung des geflügelten Wortes von Ludwig XIV. "Ich bin der Staat" heißt die tunesische Variante "Der Staat gehört mir."

Doch übersteigt die Verfassungswirklichkeit noch bei weitem die geradezu totalitär anmutenden Bestimmungen dieser (neuen) Verfassung: Tatsächlich regiert in Tunesien die (Quasi-)Einheitspartei RCD. Quasi-Einheitspartei, weil es in Tunesien ja eine - legale - Opposition gibt: Bereits bei den Parlamentswahlen von 1994 wurde die Opposition gewissermaßen institutionalisiert: Da in schöner Regelmäßigkeit die RCD bei den Wahlen sämtliche Sitze gewinnt, wurden vor der Wahl 19 Sitze für die "Opposition" , repräsentiert durch zwei hierfür geschaffene Parteien, reserviert. Mittlerweile verfügt diese "Opposition" sogar über 20 % der Sitze in der Abgeordnetenkammer, von denen sie keinen in Wahlen gewonnen hat. Unter diesen Umständen wird verständlich, weshalb die "Opposition" kräftig für das Verfassungsreferendum warb.

So wie einerseits autokratisch Pluralismus hergestellt wird, so hält Ben Ali "sein" Land in eisernem polizeistaatlichen Griff. Und so wie er die voll in der Hand seiner RCD befindliche Abgeordnetenkammer durch eine zweite weitgehend selbst ernannte Kammer doppelt, so werden die omnipräsente Polizei und die Gendarmerie noch durch einen dritten Apparat - die fest in Händen der RCD befindlichen Milizen ergänzt -, die in Form eines Blockwartsystems die totale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger garantieren. Vor diesem Hintergrund der sekuritären Besessenheit des Regimes, seines festen Willens zur totalen Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger erscheint der oben aufgeführte fünfte Punkt der Verfassungsänderung wohl in seinem wahren Licht, hatte doch Präsident Ben Ali im Juli vergangenen Jahres erklärt, daß die Regierung zwar die Pflicht habe, das Recht der Bürger auf abweichende Meinung zu schützen, daß aber diejenigen Bürger, die das Land in internationalen Medien kritisierten, "Verräter" seien.

Die Sprecherin der tunesischen Menschenrechtsorganisation Conseil National pour les Libertés en Tunisie (CNLT) Sihem Bensedrin und ihr Ehemann Omar Mestiri hatten in Genf an einem Treffen von Menschenrechtsorganisationen teilgenommen, bei dem auch Israelis vertreten waren. Teile der voll unter Kontrolle des Regimes stehenden tunesischen Presse bezichtigten sie darauf, "sich mit dem zionistischen Teufel verbündet" zu haben. Zurecht dürfte in den Kreisen der kleinen Gruppe der tunesischen Menschrechtler die Befürchtung bestehen, daß die Änderung des Art. 15 dazu dienen könnte, nun Kritik am Regime noch stärker zu kriminalisieren als bisher, indem solche Kritik gleichgesetzt wird mit Verletzung der Souveränität von Ben Alis Staat.

So scheint die Annahme der Verfassung eine neue Welle der Willkür und des Terrors von oben zur Folge zu haben, der sich im Augenblick auf die Person von Mokhtar Yahyaoui zu konzentrieren scheint: Dieser war einer der ranghöchsten Richter des Landes, unterstand sich allerdings, am 6. Juli 2001 einen offenen Brief an den Präsidenten zu schreiben, in dem er die Zustände der tunesischen Justiz beklagte und die Unabhängigkeit der dritten Gewalt einforderte. Unter fadenscheinigen Verweisen auf eine wahrscheinlich manipulierte Immobilienaffäre wurde Yahyaoui sechs Tage später vom Dienst suspendiert. Doch statt aufzugeben, schloß er sich dem CNLT an und gründete seinerseits eine Menschenrechtsorganisation, das Centre Tunisien pour l'Indépendance de la Justice (CIJ), dessen Arbeit zunehmend internationale Beachtung findet.

Ganz in der Tradition der Sippenhaft, die in Tunesien vor allem zur Zeit der Verfolgung von Islamisten praktiziert wurde, geht das Regime jetzt gegen die Familie des Richters vor: Anfang Juni wurde sein Neffe, Zouheir Yahyaoui, der eine kritisch-satirische Internetseite betreibt, verhaftet und in einem von Lächerlichkeiten und Verfahrensfehlern strotzenden Prozeß, bei dem der Angeklagte selbst nicht einmal anwesend war, am 20. Juni zu einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt wegen "Verbreitung falscher Nachrichten". Die siebzehnjährige Tochter des Richters, Amira Yahyaoui wurde am 14. Juni beim Verlassen ihres Gymnasiums von einem Mann angefallen, der mit einem Holzprügel auf sie einschlug, so daß sie einen Schienbeinbruch erlitt. Der Mann flüchtete anschließend in ein Parteibüro der RCD.

Zu welcher Parodie die tunesische Justiz inzwischen verkommen ist, illustrierte der "Prozeß" gegen Hamma Hamami und die Führung der illegalen Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) am 2. Februar 2002, in dessen Folge die Mitglieder der tunesischen Anwaltskammer in einen Streik traten. Und das Regime kann es sich auch leisten, internationalen Prozeßbeobachtern einfach die Einreise zu verweigern oder aber diese festzusetzen und zu mißhandeln und ihre Aufzeichnungen zu beschlagnahmen. Ist die tunesische Justiz, bei aller Tragik, von geradezu grotesken Zügen gekennzeichnet, so sind die Zustände in tunesischen Gefängnissen geradezu grauenhaft: Folter ist an der Tagesordnung, medizinische Versorgung nahezu inexistent und die Todesrate extrem hoch.

Und all dies geschieht in einem Lande, das wie kein anderes in der ganzen Region aufgrund seines Entwicklungsstandes und seiner Sozialstruktur, seines Bildungsstandes und seiner politischen Kultur alle Voraussetzungen für den Übergang zu demokratischen Verhältnissen besitzt. Dieser wäre um so notwendiger, als Tunesien als erstes der sogenannten Mittelmeer-Drittländer (MDL) einen Assoziierungsvertrag mit der EU unterzeichnet und ratifiziert hat, in dessen Folge mit erheblichen sozialen Problemen zu rechnen sein wird: Das untere Drittel der tunesischen Betriebe dürfte der Konkurrenz industriell gefertigter Massengüter aus dem Norden nicht standhalten, Betriebsschließungen und Massenentlassungen werden unvermeidbar sein. Die Verschärfung des Autoritarismus macht auch die leiseste Form jeden Protests unmöglich. Dagegen ist Demokratie ja gerade die Anerkennung legitimen Protests, der Pluralität von Meinungen, des öffentlichen Streits um politische, soziale und wirtschaftliche Ordnungsmodelle. Demokratie bindet divergierende Meinungen und Strömungen ein in den legalem Rahmen des Kampfes um legitime Herrschaft. Die nunmehr konstitutionalisierte Repression und Plünderung des öffentlichen Reichtums läßt für einen Systemwandel nur die Alternative der gewalttätigen Eruption. Und diese muß um so gefährlicher erscheinen, als die staatliche Repression schon bisher auch die geringsten Ansätze oppositioneller Strukturen kriminalisiert, zerschlagen und vernichtet hat. Dennoch garantiert der totale Polizeistaat keine absolute Sicherheit, wie der Anschlag auf die Synagoge La Ghriba Anfang April und die jüngsten Bombendrohungen gegen den Hotelkomplex Port El Kantawi bei Sousse zeigen.

Noch scheint die Situation "stabil". Doch um welche Art von Stabilität handelt es sich? Zeigen nicht Djerba und jene Bombendrohungen, daß der immer größer werdende Druck von oben immer stärkeren Gegendruck von unten zu bewirken scheint, ein Druck, der durch die sozialen Folgen des Assoziierungsvertrages erheblich verstärkt werden dürfte? Ökonomische Liberalisierung, die nicht von politischer Öffnung begleitet wird, produziert Spannungen und Widersprüche, die auch die möglichen positiven Seiten der Liberalisierung zu vernichten drohen, denn: Wer wird in einem Lande investieren, in dem nicht nur keine Rechtsstaatlichkeit herrscht, sondern in dem der politische Zündstoff sich in einer Weise anhäuft, daß mittel- bis langfristige Investitionen äußerst riskant erscheinen müssen?

Und: Welche Glaubwürdigkeit besitzt der Westen, vor allem Europa, wenn es immer wieder auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht, aber um solcher Pseudo-Stabilität willen Wahl- und Abstimmungsergebnisse ŕ la Ben Ali, die unter tunesischen Verhältnissen wahrhaftig "keine Überraschung" sein können, eilfertig als Legitimation einer Tyrannenherrschaft akzeptiert, die das genaue Gegenteil dessen ist, was die Wahlergebnisse zu suggerieren versuchen. Wie lange wird es noch dauern, bis europäische Politik und Medien feststellen müssen, an welchem Selbstbetrug sie sich festhalten bzw. festgehalten haben. François Burgat hat dies schon 1996 treffend auf den Punkt gebracht: "... Hören wir auf, die Stimmzettel, die durch die Trichter der psychologischen und ökonomischen Kriegsführung geschoben werden ... mit denen der Volksabstimmung zu verwechseln. Der Abstand, den wir entstehen lassen zwischen dem 'Legal-Institutionellen' und dem politisch 'Realen' in der Welt unserer arabischen Nachbarn trägt in sich gefährliche politische Schizophrenien, nicht aber Frieden und Stabilität. ... wir bedecken unsere eigenen Augen mit einem Schleier, der viel gefährlicher ist als alle Tschadors: mit dem der Desinformation."

* Werner Ruf, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Kassel und ist Mitglied der AG Friedesnforschung an der Uni Kassel

Der Beitrag erschien in Heft 31 (2002) der Zeitschrift "Inamo".
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