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Islamisches Rollback

Tunesischer Ministerpräsident Hamad Jebali zurückgetreten. Bevölkerung tief gespalten in Anhänger und Gegner der Ennahda-Partei und der Salafisten

Von Karin Leukefeld *

Unser Volk hat kein Vertrauen mehr in die politische Klasse. Wir müssen es wieder herstellen.« Mit diesen Worten erklärte der tunesische Ministerpräsident Hamad Jebali am Dienstag in Tunis seinen Rücktritt. Er habe »versprochen zurückzutreten, sollte mein Vorschlag nicht angenommen werden. Und ich bin zurückgetreten«, sagte Jebali vor Journalisten nach einem Treffen mit dem tunesischen Präsidenten Moncef Marzouki. Die Entwicklung sei für ihn »eine große Enttäuschung«. Doch das Scheitern seiner Initiative bedeute »nicht das Scheitern Tunesiens oder das Scheitern der Revolution«.

Hamad Jabali war am 24. Dezember 2011 vom neugewählten Präsidenten Moncef Marzouki zum Ministerpräsidenten ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Seit den frühen 1980er Jahren engagierte sich der Ingenieur in der islamischen Ennahda-Partei, deren Generalsekretär er bis heute ist. Er verbrachte 15 Jahre in Haft, elf davon in Isolation. Politisch gilt er als gemäßigt.

Seit Monaten schwelte es bereits in dem Regierungsbündnis aus Islamisten, Zentrumspolitikern und Sozialdemokraten. Immer wieder war es zu Protesten gekommen, weil die Regierung wirtschaftliche Probleme nicht lösen konnte, die auch Auslöser der Aufstände gegen Expräsident Ben Ali im Dezember 2010 waren. Zunehmend bestimmten die Salafisten mit ihren radikalislamischen Forderungen die politische Tagesordnung.

Nach dem Mord an dem prominenten Oppositionspolitiker Chokri Belaid am 6. Februar hatten dessen Angehörige und Vertreter der Opposition die regierende islamische Ennahda-Partei verantwortlich gemacht. Um die zunehmende Spaltung der Bevölkerung in Anhänger und Gegner der Partei zu stoppen, hatte der Ministerpräsident daraufhin vorgeschlagen, die amtierende Regierung aufzulösen und eine »Regierung von Experten« zu benennen, die keiner Partei angehören sollten. Die Ennahda-Partei wies den Vorschlag zurück, was Jebali nun zum Rücktritt bewog.

Seit dem von der tunesischen Protestbewegung im Januar erzwungenen Abtritt des langjährigen Präsidenten Zine Al-Abidine Ben Ali, hat das nord­afrikanische Land ein massives islamisches Rollback erlebt. Die lange verbotene Ennahda-Partei gewann die Wahlen, stark wurde auch die dogmatische islamistische Gruppe der Salafisten, die mit ihren Forderungen, die Gesellschaft entsprechend dem islamischen Recht der Scharia umzuwandeln, auf erbitterten Widerstand der säkularen Bevölkerung stieß.

Einen Tag vor dem Mord an Belaid, einem scharfen Kritiker der Ennahda-Partei und radikaler Islamisten, hatte der tunesische Salafistenführer Scheich Abu Iyad erklärt, er sei bereit zur Zusammenarbeit mit Ennahda, die allerdings von Regierungen im Westen daran gehindert werde. Er sei dagegen, daß salafistische Kämpfer aus Tunesien in den Krieg nach Syrien zögen, weil Tunesien seine jungen Salafisten selber brauche. Abu Iyad führt die Wohltätigkeitsorganisation Ansar Al-Scharia.

Im Mai 2012 war bekanntgeworden, daß 19 in Syrien festgenommene Kämpfer aus Tunesien stammten. Die Männer waren in Tunesien wegen Teilnahme an bewaffneten Aktionen inhaftiert gewesen, waren von der neuen Ennahda-Regierung aber freigelassen worden. Der Transport von Kämpfern und Waffen im Gotteskrieg (Dschihad) wird nach Berichten aus Sicherheitskreisen häufig über islamische Wohltätigkeitsorganisationen abgewickelt.

Chokri Belaid, der offen seine Kritik an der zunehmenden Islamisierung Tunesiens geäußert hatte, war bei den Islamisten und Salafisten verhaßt. Eine Statue, die Künstler nach dem Mord Belaids zur Erinnerung errichtet und mit Blumen geschmückt hatten, war vor wenigen Tagen zerstört worden.

Unklar ist, wie es jetzt weiter geht in Tunesien. Die Bevölkerung ist tief gespalten in Anhänger und Gegner der Ennahda-Partei und der Salafisten. Der Vorsitzende von Ennahda, Raschid Ghannouchi, traf sich am gestrigen Mittwoch mit Präsident Marzouki, um über einen Ausweg aus der Situation zu reden. Jabali schlug Neuwahlen zum frühestmöglichen Zeitpunkt vor.

* Aus: junge welt, Donnerstag, 21. Februar 2013


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