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Machtkampf in Tunesien

Wachsende Proteste gegen die Regierung. Gewerkschaften vermitteln nationalen Dialog

Von Karin Leukefeld *

Trotz wachsender Proteste gegen die Ennahda-Regierung haben Vermittler am Freitag versucht, einen seit Monaten geplanten nationalen Dialog in der tunesischen Hauptstadt in Gang zu setzen. Die Konföderation der Tunesischen Gewerkschaften (UGTT) gilt als einer der Hauptvermittler für die Gespräche, die den seit vielen Monaten dauernden politischen Konflikt im Land lösen sollen. Hintergrund ist die wachsende Kritik an der Ennahda-Partei, die nach dem Sturz des früheren Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali bei Wahlen 2011 eine deutliche Mehrheit erhalten hatte. Die islamische Ennahda-Partei gehört der Allianz der Muslimbruderschaft an und war bis 2011 in Tunesien verboten.

Seit im März und im Juli 2013 mit Chokri Belaid und Mohammed Brahmi zwei wichtige Oppositionspolitiker ermordet wurden, kommt es fast täglich zu Protesten gegen die Regierung. Die Morde wurden vermutlich von Dschihadisten verübt. Die Opposition wirft der Regierung vor, sie gehe nicht entschieden genug gegen diese radikalen Islamisten vor. Dschihadisten und Salafisten wollen dem säkular ausgerichteten Tunesien eine rückwärtsgewandte Form des Islam aufzwingen. Im März hatten die Proteste gegen die Ermordung von Belaid zum Rücktritt von Ministerpräsident Hamadi Jebali geführt. Tunesien wird seitdem von Ministerpräsident Ali Larayedh geführt, der als islamistischer Hardliner gilt.

Solange Larayedh nicht »klar und deutlich« seinen Rücktritt und den seiner Regierung innerhalb von drei Wochen nach Beginn des nationalen Dialogs erkläre, werde man an den Gesprächen nicht teilnehmen, hieß es aus Kreisen der säkularen Opposition in Tunis. Der Rahmen für eine politische Umwandlung in Tunesien war zwischen der Regierung und der Opposition in den letzten Monaten ausgehandelt worden. Gleichzeitig sollen eine neue Verfassung und ein neues Wahlgesetz sowie der Termin für Neuwahlen verabschiedet werden. Nur wenn alle verhandelten Teile des politischen Transformation eingehalten würden, sei die Regierung zum Rücktritt bereit, erklärte Larayedh am Donnerstag in einem Fernsehinterview. Vorgesehen ist, daß das Ennahda-Kabinett die politische Macht an eine Regierung aus unabhängigen Experten übergibt, die den politischen Wandel führen soll.

Dschihadisten und Salafisten versuchen an Universitäten und im Mediensektor, ihre reaktionären Vorstellungen islamischen Lebens immer häufiger mit Waffengewalt durchzusetzen. In den vergangenen zwei Wochen waren sieben Polizeibeamte der Nationalgarde in El Kef (Grenzgebiet zu Algerien) und in Orten der zentralen Provinzen Sidi Bouzid und Kasserine erschossen worden. Präsident Moncef Marzouki ordnete eine dreitägige Staatstrauer an, doch die Angehörigen der Toten wiesen die Anteilnahme der Regierung zurück. Sie betrachten die Regierung als Schutzherr der Dschihadisten, die sie für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich machen. Man wolle weder »ihre Anteilnahme noch ihre Teilnahme« an den Beerdigungen, sagte Jamel Salhi, Bruder eines der getöteten Polizisten.

In verschiedenen Orten kam es am Donnerstag zu gewaltsamen Übergriffen auf Büros der Ennahda-Partei. Dabei wurden Gebäude in Brand gesetzt, Einrichtung und technische Geräte gestohlen, Akten und Unterlagen auf die Straße geworfen. In El Kef holten wütende Demonstranten die Fahne der Partei vom Dach. Die UGTT rief die Bevölkerung von Sidi Bouzid und Kasserine zum Streik gegen die Regierung auf. Am zweiten Jahrestag der ersten Wahlen nach dem Sturz von Ben Ali 2011 waren ebenfalls am Donnerstag erneut Zehntausende dem Ruf der unabhängigen Jugendbewegung Tamrod (Rebellion) und anderer Oppositionsparteien zu Protestmärschen gefolgt

* Aus: junge Welt, Samstag, 26. Oktober 2013

Karin Leukefeld

referiert auf dem 20. Friedenspolitischen Ratschlag am 7./8. Dezember 2013 in Kassel zum Thema:
Der Krieg gegen Syrien ist vertagt. Die Gefahr bleibt bestehen (Workshop B6)
Hier geht es zum Programm des Kongresses




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