Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tunesien steht still

Generalstreik gegen die Gewalt. Zehntausende geben ermordetem Politiker das letzte Geleit *

Zehntausende Menschen haben in Tunesien anläßlich der Beisetzung des am Mittwoch ermordeten Oppositionspolitikers Chokri Belaïd erneut gegen die Regierung protestiert. Sie zogen am Freitag nahe der Hauptstadt Tunis zum Friedhof Al-Dschellaz und riefen »Das Volk will eine neue Revolution« und »Das Volk will den Sturz des Regimes«. Der größte Gewerkschaftsbund des Landes UGTT hatte gemeinsam mit mehreren linken Oppositionsparteien zu einem Generalstreik aufgerufen. In vielen Städten stand deshalb der Verkehr still, sämtliche Flüge von und nach Tunesien fielen aus. Die UGTT rief ihre 500000 Mitglieder zur Ruhe auf: »Dies ist ein friedlicher Streik gegen Gewalt.«

Der Sarg des Ermordeten war in eine tunesische Flagge gehüllt worden und wurde in einem Vorort der Hauptstadt zum nahegelegenen Friedhof getragen. Viele Menschen hielten Fotos des Getöteten in den Händen, schrien und weinten.

Am Rande der Trauerfeier kam es zu Zusammenstößen zwischen Trauernden und der Polizei, die Tränengas einsetzte, um die Menschenmenge auseinanderzutreiben. Auch im Zentrum von Tunis gingen Polizisten mit Tränengas gegen Demonstranten vor. Sie setzten außerdem Schlagstöcke gegen Jugendliche ein, die den Rücktritt der Regierung forderten. In den Städten Zarzis im Süden, in Gafsa im Zentrum sowie in Sidi Bouzid, dem Ausgangspunkt der Revolte gegen die Regierung im Jahr 2011, fuhr das Militär auf, um gewaltsame Auseinandersetzungen wie in den vergangenen Tagen zu verhindern.

Chokri Belaïd war Generalsekretär der marxistisch und panarabisch orientierten Partei der Demokratischen Patrioten (PPD). Am Mittwoch war er vor seinem Haus in Tunis von unbekannten Tätern erschossen worden. Das Verbrechen löste landesweite Proteste und Unruhen aus. Die Familie des Opfers und Teile der Opposition machen die regierende islamistische Ennahda-Partei für den Tod des Politikers verantwortlich.

* Aus: junge Welt, Samstag 9. Februar 2013


Tage des Zorns II

Generalstreik in Tunesien

Von Werner Pirker **


In Tunesien, dem Mutterland der arabischen Rebellion, heißt es erneut »Das Volk will den Sturz des Regimes«. Unter dieser Losung wurde der Despot Ben Ali zum Rücktritt gezwungen. Unter dieser Losung erhoben sich auch in Ägypten, Jemen, Bahrain die Massen, um Demokratie und soziale Rechte zu erkämpfen. Die Aufständischen von 2011 fühlen sich um ihren Sieg über die Despotie betrogen. In Tunesien, aber auch in Ägypten sind wieder »Tage des Zorns« angesagt.

In beiden nordafrikanischen Ländern sind die diktatorischen Regime von aus freien Wahlen hervorgegangenen islamistischen Regierungen abgelöst worden. Das war es dann auch schon mit der Demokratie. In beiden Ländern versuchen die islamischen Parteien Bedingungen zu schaffen, die ihnen eine dauerhafte Herrschaft ermöglichen. In Ägypten haben sich die Moslembrüder mit der Armee arrangiert, die sich politisch zwar aus den unmittelbaren Machtpositionen zurückgezogen hat, sich aber nach wie vor das letzte Wort vorbehält. In Tunesien hat die regierende Ennahda-Partei eine Straßenmiliz ins Leben gerufen, die unter dem Namen »Liga zum Schutz der Revolution« ihr Unwesen treibt. Täglich finden Einschüchterungskampagnen – Drohungen, aber auch tätliche Angriffe – gegen mißliebige Politiker, Journalisten und Künstler statt. Der Oppositionspolitiker Chokri Belaïd, dessen Ermordung die neue Protestbewegung auslöste, hatte es immer wieder mit den Pogrombrüdern zu tun bekommen, weshalb seine Mörder auch in Milizkreisen vermutet werden.

Die in einem Generalstreik gipfelnden massiven Proteste gegen die Regierung zeigen aber auch, daß die Bäume der Islamisten nicht in den Himmel wachsen und das demokratische Potential der tunesischen Gesellschaft bei weitem noch nicht erschöpft ist. Vieles spricht dafür, daß die nächste Runde im Emanzipationskampf des Volkes ansteht und der arabische Revolu­tionszyklus seine Fortsetzung findet. In Tunesien, aber auch in Ägypten ist das Bündnis aus Islamisten und säkularen Demokraten zerbrochen. Vor die Wahl zwischen Demokratie und Oligarchie gestellt, haben sich Moslembrüder und Ennahda-Partei für die Oligarchie entschieden. Ihre Hauptaufgabe sehen sie darin, ein Hinaustreiben des Aufruhrs über den kapitalistischen Ordnungsrahmen, das heißt eine soziale Revolution zu verhindern. Die nächste Bruchlinie wird innerhalb der säkularen Demokratie zwischen Liberalen und Linken verlaufen. Die Linke wird diese Auseinandersetzung nur dann siegreich bestehen können, wenn sie sich mit dem arabischen Nationalismus auf einer antiimperialistischen Grundlage zu verständigen vermag. Für einen solchen Block könnten dann auch Teile des islamischen Lagers gewonnen werden.

Was die gegenwärtige Situation in Tunesien betrifft, wäre die Ablösung der demokratisch gewählten islamischen Regierung durch ein Kabinett parteiloser Technokraten ein gewaltiger Rückschritt in Richtung eines neoliberalen Notstandsregimes.

** Aus: junge Welt, Samstag 9. Februar 2013


Zeichen gegen Fanatismus, Intoleranz und Terror

Ende März soll in Tunis das Weltsozialforum 2013 stattfinden. Organisationen verschiedener Länder Europas und Afrikas, die an der Vorbereitung beteiligt sind, bekundeten anläßlich der aktuellen Ereignisse in Tunesien in einer Erklärung ihre Solidarität mit den demokratischen Bewegungen des Landes. Die Gesellschaft Kultur des Friedens (GFK) in Tübingen übersetzte den Text aus dem Französischen und verbreitete ihn am Freitag zusammen mit einer eigenen Stellungnahme:

Die Gesellschaft Kultur des Friedens (GKF) erklärt sich solidarisch mit den demokratischen Bewegungen in Tunesien und wird mit einer Delegation von etwa 20 Personen, unterschiedlichen Initiativen der Zivilgesellschaft, am Weltsozialforum (WSF) vom 26. bis 30. März 2013 in Tunis teilnehmen. Der Vorsitzende der GKF, Henning Zierock hat in einer Solidaritätsadresse gegenüber den tunesischen Organisatoren des Weltsozialforums Mitgefühl und Unterstützung in dieser schwierigen politischen Lage zum Ausdruck gebracht. »Wir fühlen mit den betroffenen Menschen in Tunesien und hoffen, daß die demokratischen Bewegungen ein starkes Zeichen gegen Fanatismus, Intoleranz und Terror setzen und ihre Stimme weiterhin für die Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und die Entwicklung einer Zivilgesellschaft erheben. Wir wollen gerade jetzt mit unserer Teilnahme am WSF in Tunis zusammen mit Tausenden internationalen Teilnehmer/innen ein Zeichen für die demokratischen Prozesse in Tunesien setzen.« (...)

Erklärung von Organisationen, die in der Vorbereitung des Weltsozialforums im März in Tunis engagiert sind:

Wir sind entsetzt und empört über die Ermordung von Chokri Belaïd, eines politischen Führers, der sein ganzes Leben dem Kampf um Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gewidmet hat. Wir drücken der Familie des Verstorbenen, seinen Kampfgefährten, den tunesischen Demokraten, seinen Freunden, dem tunesischen Volk unser Beileid aus und beklagen den Verlust eines Mannes, der sich für deren Verteidigung ständig eingesetzt hat.

Dieses niederträchtige Verbrechen wurde zwei Jahre nach dem Beginn der Revolutionen in Tunesien und in der Region und weniger als zwei Monate vor der Durchführung des WSF 2013 in Tunis verübt. Dieser Mord hat zum Ziel, diejenigen, die für Würde, Freiheit und soziale Gerechtigkeit kämpfen, zum Schweigen zu bringen. Es wird bezweckt, ein Klima der Angst und des Hasses zu schaffen und Tunesien in Gewalt versinken zu lassen.

Ein solches Verbrechen wird den Prozeß, den die tunesischen Demokraten begonnen haben, weder behindern noch stoppen können. Wir drücken ihnen unsere Solidarität aus. Wir sind davon überzeugt, daß die demokratischen tunesischen Kräfte die starke und unerschütterliche Überzeugung und die Wahl für eine friedliche Lösung der Konflikte hin zur Vervollkommnung ihres demokratischen Prozesses beibehalten werden.

Wir rufen die tunesischen Behörden dazu auf, schnell eine unparteiische Untersuchung einzuleiten, um die Täter zu finden und alles dafür zu tun, daß dieses Verbrechen nicht unbestraft bleibt und sich nicht wiederholt. Wir sind mehr denn je davon überzeugt, daß für das Gelingen des WSF 2013 eine internationale Mobilisierung notwendig ist. Machen wir aus dem WSF ein starkes Zeichen der Unterstützung des demokratischen Prozesses in Tunesien.




Zurück zur Tunesien-Seite

Zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage