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Neokoloniale Strukturen

Für soziale Misere in Tunesien ist EU mitverantwortlich. Heterogene Opposition

Von Raoul Rigault *

Seit mindestens zwei Jahrzehnten hofft die Linke in Westeuropa auf den Aufstand der arabischen Massen gegen die korrupten und proimperialistischen Potentaten und die schmale Oberschicht im Mittleren Osten. Nach den Unruhen in Tunesien, Algerien und Ägypten sowie dem Sturz des tunesischen Präsidenten Zine al Abidine Ben Ali nimmt dieses Szenario nun konkrete Formen an. Auch die Londoner Financial Times stellt inzwischen fest, daß die »Riots in der Jugend der arabischen Welt Widerhall finden«. Eine Einschätzung, die von anderen bürgerlichen Blättern geteilt wird.

Nach Ansicht des deutschen Außenministeriums freilich hätte es diese Revolte, deren Triebfeder die Wut über die sozialen Verhältnisse ist, gar nicht geben dürfen. Bis heute loben Westerwelles Diplomaten den geschaßten Diktator Ben Ali in ihrem Länderbericht in den höchsten Tönen: »Internationale Beobachter bescheinigen dem Land eine makroökonomische Erfolgspolitik mit hohen Wachstumsraten. (...) Ausländische Investoren schätzen die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität des Landes.«

Einen wesentlich klareren Blick besitzt das State Department, wie ein jüngst von Wikileaks veröffentlichtes Dokument belegt. Bereits vor zwei Jahren meldete die US-Botschaft in Tunis nach Washington, daß Ben Ali den Kontakt zur Realität verliere und von Korruption umgeben sei. So entging ihm die steigende Unzufriedenheit unter den Jugendlichen und der Mittelschicht, die mehr denn je gegen Perspektivlosigkeit und Marginalisierung kämpfen. Bestes Beispiel dafür ist Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung den Aufstand auslöste. Der arbeitslose Jungakademiker hatte sich am 17. Dezember 2010 in der 260 Kilometer südlich von Tunis gelegenen Stadt Sidi Bouzid vor einer lokalen Behörde mit Benzin übergossen und angezündet, nachdem die Polizei wegen fehlender Lizenz zum wiederholten Mal seinen Obst- und Gemüsestand beschlagnahmt hatte. Allein in der Stadt Bousalem gab es 2010 elf ähnlich motivierte Selbstmorde.

Gerade Jugendliche mit höherer Bildung finden, trotz Wachstumsraten von durchschnittlich 5,3 Prozent in den Jahren 2003 bis 2008, keine adäquaten Jobs. Während offiziell 14 Prozent Arbeitslose gezählt werden, beträgt die Erwerbslosigkeit unter Hochschulabsolventen im Landesinnern 25 bis 30 Prozent. Eine explosive Mischung, denn inzwischen leben zwei Drittel der Tunesier in den Städten, und das Durchschnittsalter liegt bei nur 29,7 Jahren. Beschäftigung findet dieses neue, urbane Subproletariat außer als illegaler Straßenhändler vor allem in der Tourismusbranche oder als Hilfsarbeiter in der Exportindustrie. Die dort gezahlten Löhne sorgten im März 2010 für Aufsehen, als der Continental-Konzern der Belegschaft des geschlossenen Werkes im französischen Clairoix freie Stellen in einem tunesischen Werk für monatlich 137 Euro anbot. Der gesetzliche Mindestlohn liegt sogar nur bei 100 Euro im Monat, das Durchschnittseinkommen bei 250 Euro. Angesichts dessen wirkt die Behauptung des Auswärtigen Amtes, daß der Anteil derjenigen, die unter der Armutsgrenze leben, seit 1980 von 13 auf 3,8 Prozent gefallen sei, wie ein schlechter Scherz.

Einigen geht es allerdings wirklich gut, denn während auf das unterste Zehntel der Haushalte nur 2,3 Prozent des gesamten Einkommens entfallen, streicht die Oberschicht 31,5 Prozent davon ein. Besonders skrupellos verhielt sich die Familie des gestürzten Diktators Ben Ali, dessen Partei RCD pikanterweise der Sozialistischen Internationale angehört. Während seine Töchter mit vier der reichsten Erben des Landes verheiratet wurden, beseitigte seine im Privatschulwesen aktive Frau Leila unliebsame Konkurrenz mit Hilfe des Gatten. Sein mit der Tochter des Unternehmerverbandspräsidenten liierter Bruder Belhacen Trabelsi sicherte sich derweil die Kontrolle über ein privates Kreditinstitut.

Selbst wenn die Machenschaften dieses Hofstaates beendet werden, bleibt der Verteilungsspielraum zunächst einmal gering. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2009 ganze 4.171 US-Dollar. Nach Kaufkraftparitäten berechnet, rangiert Tunesien mit seiner Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung weltweit nur auf dem 114. Platz. Schuld daran ist die Konzentration auf wenig qualifizierte Auftragsarbeiten mit geringer Wertschöpfung für europäische Konzerne vor allem in den Bereichen Bekleidung, Maschinenbau & Elektrotechnik, Nahrungsmittel und Chemie. Obwohl 32 Prozent der Erwerbstätigen in der Industrie beschäftigt sind, steuert diese nur 17,6 Prozent zum BIP bei.

Das nordafrikanische Land spielt für die EU eine ähnliche Rolle wie Mexiko für die USA und weist vergleichbare Schwächen auf. Roh- und Halbwaren bilden 45,7 Prozent der Einfuhrgüter und 30,8 Prozent der Exportartikel. Hauptlieferanten und wichtigste Abnehmer sind Frankreich, Italien und Deutschland mit zusammen 45,3 beziehungsweise 59,4 Prozent. Der gesamte EU-Anteil beläuft sich auf bis zu 80 Prozent, während die arabischen Nachbarstaaten Libyen, Algerien, Ägypten und Marokko unter »ferner liefen« folgen. Zugleich sind die Außenhandels- und die Leistungsbilanz chronisch defizitär und vom Konjunkturverlauf in der Eurozone abhängig. 2009 war ein Viertel der Einfuhren nicht durch Ausfuhren gedeckt. Davon profitiert nicht zuletzt die Bundesrepublik Deutschland, die im ersten Halbjahr 2010 ihre Exporte um satte 68,5 Prozent auf 817 Millionen Euro erhöhte, die Importe hingegen nur um 26 Prozent auf 721 Millionen.

Notwendig sind, neben einer Umverteilung des vorhandenen Reichtums sowie politischen und gewerkschaftlichen Freiheiten, erhebliche Fortschritte in der Entwicklung und Qualitätssteigerung der Industrie, schon um der chinesischen Konkurrenz standzuhalten. Außerdem bedarf es einer Diversifizierung der Handelsbeziehungen und einer verstärkten Kooperation im arabischen Raum. Was den weiteren Weg anbelangt, dürfte sich die Opposition gegen das Ben-Ali-Regime schnell in zwei Lager teilen, denn einige streben offenkundig eine noch stärkere Deregulierung und Unterordnung unter die Bedürfnisse des EU-Binnenmarktes an.

* Aus: junge Welt, 18. Januar 2011


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