Tunesien taumelt in eine tiefe Krise
Regierung unter Massendruck *
In Tunesien hat die politische
Krise mit der gestoppten Verfassungsfindung
und massiven Protesten gegen
die regierenden Islamisten eine neue Wendung
genommen. Weder die von der islamistischen
Ennahda-Partei geführte Regierung
noch die Präsidentschaft kamen ihren Gegnern
am Mittwoch zunächst entgegen, nachdem
diese ihrem Zorn bei einer weiteren
Großdemonstration Luft gemacht hatten. Am
Vorabend waren Zehntausende in Tunis gegen
die Regierung auf die Straße gegangen.
Die Demonstranten drängten sich auf dem
Platz vor dem Gebäude der Verfassunggebenden
Versammlung in einem Vorort der
Hauptstadt. Deren säkular gesinnter Präsident
Mustapha Ben Jaafar hatte wenige Stunden
zuvor die Arbeit der Versammlung für
unbestimmte Zeit ausgesetzt. Laut einem Polizeivertreter
nahmen 40 000 Menschen an
der Großkundgebung teil, die wegen des Fastenmonats
Ramadan erst am späten Abend
begann. Damit reagierte die Opposition auf eine
Massendemonstration der Islamisten am
vergangenen Samstag. Die Opposition organisiert
seit der Ermordung des Oppositionspolitikers
Mohamed Brahmi am 25. Juli jeden
Abend Protestkundgebungen.
Teilnehmer hielten Porträts Brahmis sowie
des am 6. Februar erschossenen Oppositionellen
Chokri Belaid hoch. Viele Bürger
machen die Regierung für die Morde mitverantwortlich.
Die Opposition fordert eine Regierung
der nationalen Einheit, was Ennahda
mit dem Verweis auf vorgezogene Neuwahlen
im Dezember ablehnt. Einige Oppositionelle
verlangen zudem die Auflösung der von den
Islamisten dominierten Verfassunggebenden
Versammlung, die seit Monaten wegen zahlreicher
Streitigkeiten nicht bei der Ausarbeitung
einer neuen Verfassung vorankommt.
Ben Jafaar forderte Regierung und Opposition
im Fernsehen zu Verhandlungen auf. Es
sei seine Pflicht, die Arbeit der Versammlung
»bis zum Beginn eines Dialogs auszusetzen«.
Die Gewerkschaft UGTT solle ihre »historische
Rolle« erfüllen und alle Parteien zum Dialog
versammeln.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. August 2013
Massenprotest gegen Islamisten
Tunesien: Übergangsparlament stellt Arbeit ein. Regierungspartei spricht von Putsch **
In Tunesien hat sich die politische Krise weiter verschärft. Zehntausende Menschen gingen in der Nacht zum Mittwoch in der Hauptstadt Tunis auf die Straße, um den Rücktritt der Regierung zu fordern, und zogen vor das Gebäude der Verfassunggebenden Versammlung. Diese hatte wenige Stunden zuvor ihre Tätigkeit vorerst eingestellt. »Ich nehme meine Verantwortung als Präsident der Versammlung wahr«, begründete Mustapha Ben Jaafar im tunesischen Fernsehen seine Entscheidung und forderte Gespräche zwischen Regierung und Opposition. Er gehört der weltlichen Ettakol-Partei an, die Koalitionspartner der islamistischen Ennahda-Partei ist.
Diese kritisierte die Entscheidung Jafaars als »Putsch«. Zugleich zeigte man sich gesprächsbereit. »Wir sind offen für einen Dialog, aber es darf keine Vorbedingungen geben«, sagte Ennahda-Fraktionschef Sahbi Atig. Man sei bereit zu einer Regierung der nationalen Einheit, wolle aber nicht auf den Posten des Ministerpräsidenten verzichten.
Auslöser der jüngsten Eskalation war der Mord an dem Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi. Seit dem Anschlag am 25. Juli gibt es täglich Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude, bei denen vor allem ein Machtverzicht der Ennahda-Partei gefordert wird, der eine Mitverantwortung für das Verbrechen vorgeworfen wird. Rund 60 Abgeordnete haben sich den Protesten angeschlossen und ihr Mandat niedergelegt.
Die Demonstration in der Nacht zum Mittwoch fanden exakt ein halbes Jahr nach der Ermordung eines weiteren Oppositionspolitikers, Chokri Belaid, statt und war von einer Initiative organisiert worden, die Aufklärung über die wahren Hintergründe des Anschlags auf den Abgeordneten fordert. Belaids Witwe Basma erklärte, die Demonstrationen seien eine Botschaft an die Islamisten, deren Herrschaft »uns nur Katastrophen wie Gewalt und Attentate beschert« habe.
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 8. August 2013
Unruhiger Ramadan
Von Martin Ling ***
Massendemonstrationen trotz des Fastenmonats Ramadan. Was sich
in Tunesien derzeit abspielt, ist durchaus nicht gewöhnlich. Und
dennoch ist das Land weit von ägyptischen Verhältnissen entfernt, wo es
immer wieder zu massiven, blutigen Auseinandersetzungen kommt. In
Tunesien wird die zweifellos vorhandene Polarisierung der Gesellschaft
zwischen säkularen und islamischen bis radikalislamischen Kräften noch
weitgehend mit zivilen Mitteln ausgetragen – auch wenn die zwei politischen Morde in diesem Jahr und die vergangene Woche in Scharmützeln mit Islamisten getöteten acht Soldaten eine andere Sprache sprechen und Warnzeichen sind.
Nicht nur der Grad der Gewalt unterscheidet Tunesien von Ägypten,
auch die Art der Regierung. Obwohl die in Tunis regierende Ennahda-
Partei die gleichen ideologischen Wurzeln hat wie die ägyptischen Muslimbrüder, so hat sie bisher nicht versucht, so rücksichtslos durchzuregieren, wie es die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei unter Mursi allem Anschein nach getan hat. Ob aus echter Einsicht oder nur unter dem Druck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und der Zwänge der Koalitionsregierung, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Mehr Kompromissbereitschaft als in Ägypten zeichnet sich jedoch allemal ab: Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition sind in Reichweite.
*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 8. August 2013 (Kommentar)
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