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Was tun?

Revolution und Realpolitik: Linke Kräfte und Parteien in der tunesischen Revolution. Diskussion über Machtstrategien

Von Claudia Haydt *

Die Revolution gibt uns Gelegenheit zu träumen«, mit diesen Worten beschreibt der tunesische Autor und frühere Dissident Taoufik Ben Brik das, was Akteure und Beobachter des Aufbegehrens und Umsturzes in Tunesien verbindet. Ob die Revolution vorbei und ein Übergang zur Normalität nun das Gebot der Stunde ist oder ob die Revolution ein – längst noch nicht abgeschlossener – Prozeß ist, darüber sind sich die verschiedenen linken Gruppierungen in Tunis alles andere als einig.

In Tunesien waren zu Beginn der Woche 24 politische Parteien offiziell registriert, viele davon sind neu und praktisch unbekannt. Welche davon eine zentrale Bedeutung im neuen Tunesien haben werden, darüber mag niemand eine Prognose abgeben. Fragt man Menschen auf der Straße nach linken Parteien, dann wird meist die PCOT, die Kommunistische Arbeiterpartei, genannt. Ihr Vorsitzender Hamma Hammadi hat lange Jahre im Gefängnis und in der Illegalität verbracht und wird deswegen von einem breiten politischen Spektrum – bis hin zu islamistischen Aktivisten – ob seines konsequenten Engagements für Freiheit und Demokratie geschätzt. Die PCOT hat es nicht eilig damit, sich als Partei registrieren zu lassen, diese Formalität steht »demnächst« auf der Tagesordnung. »Wir sind von der Bevölkerung anerkannt, das reicht als Grundlage unserer Arbeit«, heißt es. Dennoch haben sie, wie andere Parteien auch, sofort nach dem Sturz des Diktators Zine El Abidine Ben Ali begonnen, sichtbare Parteistrukturen aufzubauen. Alle rechnen mit einem Achtungserfolg der PCOT bei den nächsten Parlamentswahlen. Die Machtfrage Tunesiens entscheidet sich jedoch voraussichtlich im politischen Mitte-Links-Spektrum.

Soziale Fragen

Neben der islamischen Ennahda gibt es auch liberale und bürgerlich-konservative Parteien, doch gerade letztere spielen momentan keine große Rolle in der Neuformierung der politischen Landschaft. Die Revolution entzündete sich vor allem an sozialen Fragen, folglich sind Parteien, die soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen, diejenigen, die die besten Chancen haben. In den konkreten Forderungen gibt es deswegen von Links bis Mitte (einschließlich Ennahda) weitgehenden Konsens. Priorität haben die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Regionalentwicklung, der Stopp von Privatisierungen – ganz besonders im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen – und die Senkung der Lebenshaltungskosten. Ebenso auf der Tagesordnung steht die Abkehr vom Präsidialsystem und der Neuaufbau einer parlamentarischen Demokratie.

Dissens gibt es in der Frage der Kooperation mit der Übergangsregierung. Besteht die Gefahr, alles zu verspielen, wenn nicht schnell Normalität einkehrt, wenn sich nicht auch linke Parteien und Organisationen an der Regierung und damit an der Kontrolle des Apparates beteiligen? Diese Position vertritt die reformkommunistische Partei Ettajdid, die im Tunesien Ben Alis zur »legalen Opposition« gehörte und zur Zeit mit zwei Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Das Argument ist nicht völlig von der Hand zu weisen, da Anhänger Ben Alis und seiner inzwischen suspendierten Partei RCD nach wie vor versuchen, das Land zu destabilisieren, und dazu auch ihre Positionen im Regierungsapparat nutzen. Ettajdid stellt mit Ahmed Brahim den Minister für Bildung und Forschung. Im Gegensatz zu anderen müssen die Reformkommunisten beim Parteiaufbau nicht von Null auf Hundert starten, sondern sie besitzen bereits einen gewissen Professionalisierungsgrad.

Regierungsbeteiligung

Der frühere Dissident Ben Brik sieht in der Regierungsbeteiligung Kollaboration, ja »Verrat an der Revolution«. Er befürchtet, daß Linke durch ihre »konstruktive Mitarbeit« (Demokratische Fortschrittspartei/PDP) beziehungsweise durch die »Übernahme von Verantwortung« (Ettajdid) gerade das Überleben des alten Systems ermöglichen. Doch die Lage und die Signale aus der Bevölkerung sind nicht ganz so eindeutig, und so sieht auch eine weitere, unter Ben Ali marginalisierte, aber legale Oppositionskraft aus dem Mitte-Linksspektrum, die Demokratische Fortschrittspartei (PDP), die Notwendigkeit einer Regierungsbeteiligung. Die PDP hat als erste tunesische Partei eine Frau als Vorsitzende, Maya Jribi. Graue Eminenz ist der ehemalige Vorsitzende und Anwalt Ahmed Néjib Chebbi, der als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wird. Die PDP gilt als eine der populärsten Mitte-Links Parteien. Bis jetzt scheint auch die Beteiligung ihres Aushängeschilds an der Regierung der Glaubwürdigkeit nicht geschadet zu haben. Chebbi ist Minister für Regionalentwicklung, ein Posten, der für die unterwickelten Teile Tunesiens von großer Bedeutung ist. Zu den ersten Projekten in diesem Bereich gehören die Wiederherstellung und der Ausbau des Schienennetzes in den ländlichen Regionen. Neben Ettajdid und PDP beteiligt sich auch ein Aktivist der Piratenpartei als Staatsekretär für Jugend und Sport an der Regierung. Doch auch wenn das Internet und soziale Medien eine zentrale Rolle in der tunesischen Revolution spielten, so hat die Piratenpartei – zumindest bis jetzt – keine größere Massenbasis.

Konsequente Opposition

Einen anderen Weg wählte das ebenfalls im Mitte-Links Spektrum verortete Forum für Arbeit und Freiheit (FDTL). Ihr Vorsitzender, der renommierte Arzt Mustapha Ben Jaafar, erklärte sich am 17. Januar zunächst bereit, das Gesundheitsministerium zu übernehmen. Als er jedoch realisierte, wie viele RCD-Funktionäre Schlüsselpositionen in dieser Regierung innehatten, trat er umgehend zurück – gemeinsam mit den meisten Vertretern der Einheitsgewerkschaft UGTT, die ebenfalls kurzfristig diverse Ministerposten besetzten. Zusammen mit massivem Protesten auf den Straßen Tunesiens führte dies dazu, daß nun außer dem Premierminister Mohammed Ghannouchi keine RCD-Vertreter mehr in der ersten Reihe der Regierung vertreten sind. Allerdings werden viele Positionen von Experten aus der zweiten Reihe des alten System besetzt, deren Loyalitäten nicht immer klar sind. PDP und Ettajdid werfen Ben Chaafar vor, er habe sich nur aus opportunistischen Gründen aus der Regierung zurückgezogen, um so eine bessere Ausgangsbasis für die Präsidentschaftswahlen zu haben. Tatsächlich gilt auch Ben Chaafar als aussichtsreicher Kandidat. Seine unter gewerkschaftlich organisierten Medizinern verankerte FDTL hat schon in den vergangenen Jahren eine gewisse Popularität als konsequente Oppositionspartei gewonnen.

Welche der linken Machtstrategien nun aufgehen wird, das werden die Wahlen zeigen, die voraussichtlich in etwa einem halben Jahr stattfinden sollen. Momentan hat Tunesien wohl eine »Regierung auf Bewährung«. Die Bevölkerung beobachtet sehr genau, was diese macht. Es wird positiv aufgenommen, daß endlich die Antifolterkonvention ratifiziert wurde, daß Pressefreiheit herrscht und daß es bei der sozialen Absicherung kleine Verbesserungen gibt. Doch als Außenminister Ahmed Ounaies sich allzu begeistert über ein Treffen mit seiner französischen Amtskollegin Michèle Alliot-Marie zeigte, da mußte er innerhalb kürzester Zeit seinen Hut nehmen, hatte die Dame doch neben kostenlosem Urlaub bei Ben Alis Freunden vor allem dadurch von sich reden gemacht, daß sie dem Diktator während der Proteste Hilfe durch französische Fallschirmspringer angeboten hatte. Die eigentliche politische Macht in Tunesien liegt – zum Glück – immer noch bei der Bevölkerung, die ihre Angst verloren hat. Es ist vor allem dieses Korrektiv der Straße, das dafür sorgt, daß zumindest die generelle politische Richtung stimmt. Die Übergangsregierung weiß sehr genau, daß alles, was als »Verrat an der Revolution« wahrgenommen wird, zu massiven Protesten führt.

* Claudia Haydt war in den vergangenen Tagen in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied der Europäischen Linkspartei (EL) zusammen mit deren Vizepräsidentin Maite Mola in Tunesien zu Gesprächen mit Vertretern verschiedener linker Parteien.

junge Welt, 17. Februar 2011


Wichtige Rolle

Tunesiens Gewerkschaften: Schwieriger Neuanfang

Von Claudia Haydt **


Tunesien hat eine starke Gewerkschaft. Die 1946 gegründete UGTT (L’Union Générale Tunisienne du Travail) ist eine Einheitsgewerkschaft mit einer halben Million Mitglieder, die von Staatschef Zine El Abidine Ben Ali zumindest partiell kontrolliert wurde. Ihre Mitglieder mußten wie die legalen Oppositionsparteien vor Parlamentswahlen per Unterschrift ihre Unterstützung für die Kandidatur Ben Alis signalisieren. Dennoch konnte sich der Diktator nie völlig auf die Gefolgschaft der Gewerkschaft verlassen. Entsprechend argwöhnisch wurde sie von der politischen Polizei beobachtet.

Bei den Protesten im Dezember und Januar spielten Gewerkschaftsangehörige schnell eine wichtige Rolle. Nachdem mehrere Hunderte gewerkschaftlich organisierter Anwälte bei einer Demonstration Ende Dezember massiv zusammengeknüppelt worden waren, griff der Protest auf praktisch alle Anwälte über. Am 6. Januar streikten etwa 95 Prozent der insgesamt 8000 in Tunesien tätigen Anwälte. Lehrer und Angestellte im Medizinbereich traten ebenso in den Ausstand. Die Gewerkschaften trugen mit dazu bei, daß die anfänglichen Armutsaufstände auch von den Bildungseliten des Landes mitgetragen wurden.

Viele Arbeiter haben jedoch nicht vergessen, daß die UGTT zu Zeiten Ben Alis nicht immer ausreichend für ihre Interessen gekämpft hat, so daß vor allem in den letzten Jahren die Lebenshaltungskosten deutlich mehr stiegen als die Gehälter. Es gibt deswegen einen starken Druck aus der Basis, spürbar konsequenter und entschiedener zu kämpfen. Tunesien erlebt deswegen zur Zeit eine nie dagewesene Welle von Streiks und Betriebsbesetzungen. Selbst manchen Gewerkschaftsfunktionären ist nicht immer klar, wer die Akteure hinter einem Teil der Arbeitskämpfe sind. So gibt es den Verdacht, daß neben berechtigtem und organisiertem Gewerkschaftsprotest hinter manchen der Streiks ehemalige Anhänger Ben Alis und der entmachteten Regierungspartei RCD stehen. Ziel dieser »wilden Proteste« ist es, so wird von vielen vermutet, gezielt Unruhe zu stiften und Tunesien so zu destabilisieren, daß der alte Machtapparat als der einzige erscheint, der Ordnung herstellen kann. Es gibt in der Folge zahlreiche politische Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaft über den richtigen Kurs, sich einerseits vom alten Regime zu lösen und sich andererseits glaubwürdig für die Interessen der Arbeiter einzusetzen. Am 1. Februar führte dies zu einer ersten Spaltung. Unter der Leitung von Habib Guiza einem früheren Mitglied der UGTT- Führung, hat sich mit der »Confédération générale des travailleurs tunisiens« (CGTT) eine neue Gewerkschaft gebildet.

** Aus: junge Welt, 17. Februar 2011




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