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Die Geduld der Tunesier geht zu Ende

Ministerpräsident Laârayedh zögert Rücktritt hinaus / Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition

Von Astrid Schäfers, Tunis *

Während die tunesische Übergangsregierung mit der Opposition und der Gewerkschaft über die Einsetzung einer Technokratenregierung verhandelt, geht die Bevölkerung auf die Straße.

Die von der unabhängigen Jugendbewegung Tamrod (Rebellion), den wichtigsten Oppositionsparteien Al-Massar (Der Weg), Al-Joumhouria (Die Republik) und der Front Populaire (Volksfront) angeführte Oppositionsbewegung Front du Salut National (Nationale Heilsfront) hat diese Woche Tausende Anhänger mobilisiert. Unter dem Motto »Woche des Rücktritts der Regierung« wollen die Demonstranten das islamistische Kabinett endgültig in die Knie zu zwingen.

Der 23. Oktober, der zweite Jahrestag der ersten freien Wahlen in Tunesien, bot dieses Jahr also wenig Anlass zum Feiern. Die früher enthusiastische Bevölkerung wirkt inzwischen frustriert und enttäuscht. Seit dem Verstreichen des letzten 23. Ok- tober, dem vorgesehenen Zeitpunkt für die Wahlen, hat die Verfassungsgebende Versammlung in Tunesien ihre moralische Legitimität verloren. Verfassung und Wahlgesetz sind immer noch nicht fertig, und auch ein Wahltermin steht noch aus. Manche hoffen auf den Sommer 2014, andere erwarten Wahlen nicht vor 2015. Währenddessen haben zahlreiche Investoren das Land verlassen, die Preise und die Arbeitslosigkeit steigen.

Die demonstrierende Opposition fordert den Rücktritt der Übergangsregierung unter Ali Laârayedh innerhalb von drei Wochen. Die von der islamistischen Partei Ennahda angeführte Regierung will aber nicht nachgeben.

»Meine Regierung wird gehen sobald es eine neue Verfassung gibt, das neue Wahlgesetz ausgearbeitet worden ist und der Zeitpunkt für Neuwahlen feststeht«, erklärte Ministerpräsident Laârayedh am Mittwochabend, wohl wissend, dass sich die Regierungsparteien mit der Opposition in der Verfassunggebenden Versammlung seit zwei Jahren nicht auf eine Verfassung einigen können. Die Differenzen – auch innerhalb von Ennahda – scheinen unüberbrückbar. »Diese Aussage von Laârayedh steht in eklatantem Widerspruch zu dem Vermittlungsvorschlag, auf den sich Ennahda und die Oppositionsparteien nach wochenlangen Verhandlungen geeignet haben«, erklärte Elisabeth Braune, die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis gegenüber »nd«. Der Vorschlag sieht vor, dass Verfassung binnen vier Wochen fertiggestellt wird, die amtierende Regierung zurücktritt und an ihrer Stelle eine Technokratenregierung eingesetzt wird. A

Abdelhamid Jelassi, der Vorsitzende von Ennahda, gibt sich nach den langen Vorverhandlungen gegenüber der Deutschen Welle optimistisch: »Wir haben es geschafft, das Vertrauen wiederherzustellen. Denn das größte Problem im Land ist heute, dass alle Parteien an den anderen zweifeln.« Der Koalitionspartner von Ennahda, die Partei Kongress für die Republik (CPR), hatte sich geweigert, den Vorschlag der Vermittler um den Gewerkschaftsverband UGTT zu akzeptieren. »Wir unterschreiben gar nichts«, hatte der Generalsekretär des CPR, Imed Daimi, erklärt. Er möchte sich auf nichts festlegen, wofür seine Partei später zur Verantwortung gezogen werden könnte.

Bereits Anfang des Monats hatten die verschiedenen politischen Lager den so genannten »nationalen Dialog« aufgenommen. Am Mittwoch sollte der Startschuss für die tatsächliche Arbeit gegeben werden. Dieser wurde nun aber auf den heutigen Freitag verschoben. Die Gespräche sollen Tunesien aus der Krise führen, die sich nach dem Mord an dem linken Abgeordneten Mohamed Brahmi im Juli weiter zugespitzt hat. »Es sieht einmal mehr aus, als würde Ennahda auf Zeit spielen, um den Startschuss für die Verhandlungen und den gesamten Prozess zu verzögern,«, kommentiert Braune das Verhalten der Regierungspartei. Aus ihrer Sicht zeigt die Art und Weise, wie die Verhandlungen geführt werden, dass überhaupt kein Vertrauen mehr zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien vorhanden ist. Auf der anderen Seite ist da die Angst vor dem ägyptischen und dem libyschen Szenario. Diese bewirkt, dass die Verhandlungen unter Vermittlung der UGTT sehr vorsichtig geführt werden.

Und auch die Bevölkerung scheint keine Gewalt zu wollen. Dies zeigt sich an der Erschütterung über die politischen Morde, die an Chokri Belaid und Mohamed Brahmi begangen wurden. Bei der Demonstration am Mittwoch auf der Avenue Bourguiba grenzte eine Menschenkette die Demonstration der Miliz von Ennahda, die den Namen »Die Beschützer der Revolution« trägt, von den Demonstranten der Oppositionsbewegung ab.

An mehreren Orten hatten sich bewaffnete Gruppen verschanzt. Neben dem Berg, Djebel Chambi, dem höchsten Berg Tunesiens an der Grenze zu Algerien war es Ende letzter Woche zu Kämpfen zwischen der Nationalgarde und einer bewaffneten Gruppe gekommen. Dabei kamen zehn islamistische Kämpfer und zwei Polizisten ums Leben. Das Fehlen von öffentlicher Sicherheit liefert der Regierung das Argument zu sagen, wir müssen bleiben, sonst gibt es einen Bürgerkrieg.

Im Nordwesten Tunesiens ist am Donnerstagmorgen ein Büro von Ennahda in Brand gesetzt worden. Das Gebäude in der Stadt Kef brannte nach Angaben von Augenzeugen bis auf die Grundmauern nieder. In der Stadt sollte am Nachmittag ein Polizist beigesetzt werden, der am Mittwoch in der zentral gelegenen Region Sidi Bouzid bei schweren Gefechten zwischen Rebellen und der tunesischen Nationalgarde getötet worden war.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Oktober 2013


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