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Tunesien - Eine riesige Kaserne

Buchrezension

Am 16. Juni 2000 veröffentliche die NZZ eine Rezension eines Buches, das die Wandlung Tunesiens in den letzten 13 Jahren, also in der Regierungszeit Ben Alis beschreibt.

Tunesien unter Ben Ali - vom Vorbild zum Problemfall

Mit einem ärztlichen Gutachten hatte Zine el Abidine Ben Ali 1987 Tunesiens langjährigen Staatspräsidenten Habib Bourguiba wegen Senilität abgesetzt. Damals schien der neue Präsident, «L'Artisan du Changement», tatsächlich an einen demokratischen Wandel zu glauben. Tausende von politischen Gefangenen kamen frei, und Tunesien ratifizierte die Antifolterkonvention. Das nordafrikanische Land verfügte über einen relativen Wohlstand und eine breite, gut ausgebildete Mittelschicht. Die Schulen waren gratis und obligatorisch, die Geburtenrate war niedrig (heute 1,2 Prozent) und behinderte die Entwicklung nicht, die Frauen waren seit 1957 - abgesehen vom Erbrecht - rechtlich weitgehend gleichgestellt. Dies waren Trümpfe für eine Entfaltung der Demokratie. Doch innerhalb zweier Jahre erstickte Ben Ali jede Hoffnung darauf.

Bittere Bilanz

Man habe damals etwas schnell vergessen, dass der General und frühere Geheimdienstchef hinter den grossen Repressionswellen der vorhergehenden Ära gestanden hatte, schreiben Nicolas Beau und Jean-Pierre Tuquoi in ihrem Buch «Notre Ami Ben Ali». Die beiden französischen Journalisten von «Le Canard Enchaîné» beziehungsweise «Le Monde» schildern den unaufhaltsamen Aufstieg Ben Alis zum Innen- und zum Premierminister, bis er schliesslich das höchste Amt ergriff. Dreizehn Jahre nach dem Machtantritt ist die Bilanz bitter. Die Autoren demontieren das «tunesische Wunder», wie Jacques Chirac Anfang der neunziger Jahre die wirtschaftliche und politische Öffnung des Landes nannte. Im Namen eines erbarmungslosen Kampfes gegen die Islamisten und infolge des Krieges im benachbarten Algerien verwandelte Ben Ali das friedliche Tunesien in eine «immense Kaserne». Die Polizei wurde massiv aufgestockt; Tausende von Spitzeln der Regierungspartei Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD) unterstützen sie bei der Überwachung der Bevölkerung. Spätestens seit 1992 werden Oppositionelle jeder Couleur und ihre Angehörigen systematisch und bis ins Exil verfolgt, gefoltert und in Prozessen verurteilt, die nicht den Standards von fairen Gerichtsverhandlungen entsprechen. Die Untersuchungen der beiden Autoren decken sich mit den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen. Bereits im November 1998 hat das Antifolterkomitee der Uno die gängige Folter kritisiert.

Fassadendemokratie

Im vergangenen Oktober liess sich Ben Ali zum drittenmal mit über 99 Prozent der Stimmen im Amt bestätigen. Die Autoren von «Notre Ami Ben Ali» kritisieren diese «Operettendemokratie». Ihr Buch ist in Tunesien verboten. Nach den Wahlen beklagte sich Tunis über die schlechte Presse in Frankreich und verlangte eine Intervention der französischen Regierung. Mehrere Zeitungen hatten die demokratische Fassade des tunesischen Regimes in Frage gestellt. Bei seinem Besuch Anfang Februar in Tunis musste der französische Aussenminister Hubert Védrine seine Gesprächspartner davon überzeugen, dass die Medien nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Der tunesische Journalist Taoufik Ben Brik kam Anfang April wegen seiner Besprechung des Buches in einer Westschweizer Zeitung vor Gericht. Die tunesische Regierung drückte ihre «Überraschung» aus, als Védrine erklärte, er verfolge das Schicksal des Journalisten aufmerksam. Ebenso erstaunt dürfte Tunis über den Bericht des Sonderbeauftragten der Uno-Menschenrechtskommission sein, der festhielt, dem Land mangle es an Meinungs- und Pressefreiheit. - Die tunesische Regierung stellt sich auf den Standpunkt, sie habe sich in den letzten Jahren keine Fehler zuschulden kommen lassen. Sie verweist auf eine gute wirtschaftliche Leistung und Fortschritte im Bildungs- und im Gesundheitswesen. In der Tat lobten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank das Land regelmässig für sein jährliches Wachstum, das selten unter sechs Prozent lag. Tunesien galt bisher als «Pol der Stabilität» im Maghreb. Als erstes Land der Region schloss Tunesien 1995 ein Freihandelsabkommen mit der EU, das bis 2008 umgesetzt werden soll. Damit wurde das Land nach Einschätzung der Autoren zu einem unangreifbaren Partner: Wenn das Unternehmen gelingt, gilt die Politik der gemeinsamen Entwicklung der EU mit den südlichen Ländern als wirksam, andernfalls ist die EU ohne Projekt für den Mittelmeerraum. Dies erklärt für die Autoren das Wohlwollen, von dem Ben Ali bisher trotz den Menschenrechtsverletzungen profitierte. Gefahr für die tunesische Wirtschaft droht allerdings durch Korruption und eine hemmungslose Geschäftemacherei im Umfeld des Präsidenten.

Zudem hat sich der regionale Kontext geändert. Das Embargo gegen Libyen ist aufgehoben, zahlreiche Besuche ausländischer Minister in Algier zeugen von der Sympathie, die die Bemühungen Präsident Bouteflikas hervorriefen, und Marokko scheint sich zu einer konstitutionellen Monarchie zu entwickeln. Tunesien droht von einem Vorbild zum negativen Beispiel zu werden. Denn mittlerweile wissen westliche Politiker, dass nur Ben Alis Sicherheitswahn die Verhaftungswellen und politischen Prozesse rechtfertigt.
Annegret Mathari

Nicolas Beau und Jean-Pierre Tuquoi: Notre Ami Ben Ali. L'envers du «miracle tunisien». Mit einem Vorwort von Gilles Perrault. La Découverte, Paris 1999.

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