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"Dort ist eine demokratische Revolution im Gang"

In vielen Vierteln tunesischer Städte haben sich Bürgerkomitees gebildet. Bedrohung durch Milizen und Plünderer. Ein Gespräch mit Hugo Braun *


Hugo Braun ist Mitglied des ATTAC-Koordinierungskreises und der Arbeitsgruppe Internationales.

Sie stehen im ständigen Kontakt mit ATTAC in Tunesien. Wie sieht dort die Situation zur Zeit aus? Geht die Revolte weiter, weil auch die Übergangsregierung nicht das Vertrauen der Bevölkerung genießt?

Zunächst einmal: ATTAC-Tunesien hat einige hundert Mitglieder in verschiedenen Orten, über das ganze Land verteilt. Im wesentlichen ist die Organisation jedoch in der Hauptstadt Tunis präsent. Allerdings ist durch den halbillegalen Status unter dem autoritären Regime die tatsächliche Mitgliederzahl nicht bekannt.

In meinem letzten Telefongespräch hat unser Freund Fathi Chamkhi berichtet, daß in zahlreichen Städten Kundgebungen und Demonstrationen stattfinden. Auch in Tunis selbst gab es nach seinen Auskünften Massendemonstrationen, die von der Polizei weiterhin mit Tränengas attackiert werden. Den Demonstranten geht es um den Sturz der Übergangsregierung, die sich vor allem aus Vertretern des ehemaligen diktatorischen Regimes zusammensetzt. Sämtliche Schlüsselfunktionen haben sie noch inne. Ministerpräsident, Innen- und Außenminister sowie verschiedene andere Vertreter gehören der Partei des aus dem Lande gejagten Diktators Zine El Abidine Ben Ali, der »Rassemblement constitutionnel démocratique« (RCD), an. Deshalb sind am Dienstag die drei Vertreter des tunesischen Gewerkschaftsbundes UGTT aus dieser Übergangsregierung ausgetreten.

Wie beurteilt ATTAC diese Regierung?

Außer dem UGTT waren mehrere Mitglieder halblegaler Parteien der Opposition dort vertreten. ATTAC-Tunesien fordert diese auf, sich ebenfalls zurückzuziehen. Unsere Freunde verlangen allgemeine freie Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung, aus der eine neue Regierung hervorgehen soll. In gar keinem Fall sollen einer künftigen Regierung Vertreter des ehemaligen Unterdrückungsregimes angehören. Daß die Gewerkschaften jetzt auf diese Weise sehr konsequent agieren und sich zurückziehen, ist übrigens keineswegs selbstverständlich. Teilweise hatten sich auch Gewerkschaften mit dem alten System arrangiert – ihnen war nichts anderes übrig-geblieben. Jetzt stellt sich heraus, daß sie nun massiv Gewerkschaftsrechte fordern und – wie es konkret in einer ihrer Veröffentlichungen heißt – »die Wiederherstellung von Volkseigentum«.

Wie stellt sich die Situation für die Bevölkerung dar? Wie ist beispielsweise die Ernährungssituation? Toben noch Straßenkämpfe, gibt es Plünderungen?

Die Lage ist kritisch, nur einzelne Geschäfte und Cafés sind geöffnet. Die nächtliche Ausgangssperre besteht weiterhin, es herrscht Chaos. Unsere Freunde in Tunesien berichten Folgendes: Die gestürzte Regierung läßt schwerbewaffnete Milizen – einschließlich der Leibwache Ben Alis –auf die Bevölkerung los. Diese Milizen versuchen nach wie vor, in Tunis und seinen Vororten sowie in anderen Großstädten Angst und Schrecken zu verbreiten.

Gruppen armer und hungriger Menschen versuchen, vom Chaos zu profitieren, indem sie sich selbst in Supermärkten wie Carrefour und Géant bedienen. Plündernde Banden entlang der größeren Straßen machen jede Fortbewegung gefährlich. Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich geworden, an Grundnahrungsmittel wie Brot oder Milch sowie an Medizin zu kommen.

Was hat es mit den sogenannten Bürgerwehren auf sich?

In fast allen Orten haben sich spontan Bürgerkomitees in den Stadtvierteln gebildet, um die Bevölkerung zu schützen. Sie versuchen ihren Lebensraum gegen die Anhänger des alten Regimes, gegen Übergriffe von Polizei und Militär sowie gegen Plünderer zu verteidigen. Es gibt zahlreiche Tote, über die genaue Zahl wissen wir nichts – dazu ist die Infrastruktur von ATTAC nicht gut genug.

Gab es denn schon in der Vergangenheit organisierten Widerstand von ATTAC – oder war das aufgrund der Diktatur nicht möglich?

ATTAC hatte immer nur einen halblegalen Status in den vergangenen Jahren und war massiven Repressionen ausgesetzt. Öffentliche Versammlungen abzuhalten, war unseren Freunden verboten. Sie durften keinen Kongreß veranstalten, Mitglieder wurden zeitweise inhaftiert. Es war ein wesentlicher Teil unserer Solidarität, unseren Freunden in Tunesien politisch und materiell zu helfen. Eine soziale und demokratische Revolution ist dort im Gang.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 19. Januar 2011


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