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"Erdogan könnte in der Türkei ein Präsidialsystem einführen"

Parlamentswahlen am 7. Juni. Die linke HDP hofft auf Überspringen der Zehnprozenthürde. Ein Gespräch mit Düzgün Altun *


Düzgün Altun ist Mitglied im Bundesvorstand der DIDF (Föderation Demokratischer Arbeitervereine).

Im Vorfeld der Wahlen in der Türkei am 7. Juni hat Ihre »Föderation Demokratischer Arbeitervereine« (DIDF) am Samstag in Berlin die Rolle der Türkei im Nahen Osten diskutiert. Warum ist es jetzt wichtig, die linke HDP zu stützen und Erdogans AKP zurückzudrängen?

Die Türkei ist eine Brücke zwischen West und Ost, sie spielt für die weitere Entwicklung im Nahen Osten eine wichtige Rolle. Seit 13 Jahren regiert die nationalistische »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) alleine. Am 7. Juni wird sich entscheiden, ob sie im Parlament eine Zweidrittelmehrheit bekommt, mit der sie die Verfassung ändern kann. Erdogan könnte dann ein Präsidialsystem einführen, die Islamisierung des Landes vorantreiben und Grundrechte weiter beschneiden.

Die »Halklar?n Demokratik Partisi« (Demokratische Partei der Völker, HDP) hat nicht nur bei Linken eine Chance – seit den Gezi-Park-Protesten wird sie auch von Frauen- und Jugendverbänden und Teilen der Gewerkschaftsbewegung mitgetragen. Für die Bevölkerung stehen soziale Fragen im Vordergrund, unter der AKP hat die Armut nämlich zugenommen. Die Partei findet auch bei Metallarbeitern Anklang, die soeben gestreikt haben.

Der Abbau demokratischer Rechte unter dem AKP-Regime empört viele. Erdogan maßt sich an, darauf Einfluss zu nehmen, wie viele Kinder Frauen gebären sollen, er ist sogar dagegen, dass Frauen auf der Straße laut lachen. Die AKP debattiert über die Geschlechtertrennung in Studentenwohnheimen. Erdogan hat sich besonders unbeliebt gemacht, als er nach dem Grubenunglück in Soma, wo 301 Bergarbeiter umkamen, Sätze sagte wie: »Solche Dinge sind ganz gewöhnlich. Das liegt in der Natur der Sache.« Wie Sicherheitsmängel ausgeräumt werden sollen, interessierte ihn weniger.

Wie ist die Situation jetzt vor der Wahl für die HDP?

In den vergangenen zehn Tagen haben Anhänger der faschistischen »Partei der Nationalen Bewegung« (MHP) mehrere Wahlbüros der HDP gestürmt. Erdogans Polizeitruppen schauen dabei zu und nehmen Mitglieder der HDP fest, statt deren Angreifer. Regierungsvertreter schüren Feindschaft gegen Linke und bringen sie mit dem Terrorismus in Verbindung.

Warum hatten Sie zu Ihrer Tagung einen der Anführer des linken Widerstands in Tunesien, Hamma Hammami, eingeladen?

Es gibt Parallelen zwischen der Entwicklung in Tunesien und der in der Türkei. Auch wenn die AKP in der Türkei noch relativ stabil im Sattel zu sitzen scheint, wird sie nicht so weitermachen können wie bisher. In Tunesien gab es den sogenannten arabischen Frühling. Das tunesische Volk hatte nach langen Jahren der Diktatur Ben Ali gestürzt und aus dem Land verjagt. Nun rekrutiert die Terrorgruppe IS (Islamischer Staat) dort Kämpfer.

Die jetzige Regierung ist zwar gemäßigt liberal, sie bietet Linken und Gewerkschaftern aber keinen Schutz. Die Gleichberechtigung der Frauen wird allmählich zurückgenommen – in Tunesien ebenso wie in der Türkei. Hammami, Vorsitzender der tunesischen Arbeiterpartei und des Volksfrontbündnisses, hat bei den Staatspräsidentschaftswahlen die drittmeisten Stimmen bekommen. Die Volksfront ist im Parlament aktiv, kann aber der Regierung noch nicht richtig zusetzen.

Kurden und Linke in der Türkei und im angrenzenden Nordsyrien sind ebenso in Bedrängnis durch erzreaktionäre Kräfte um Erdogan und den IS. Welchen Einfluss nimmt die Politik westlicher Staaten?

Europa hat lange zugeschaut und ist der AKP gegenüber unkritisch. Waffenlieferungen und Gotteskrieger konnten bisher die Grenzen zwischen der Türkei und Syrien ungehindert passieren. Bei Kundgebungen kann der IS in der Türkei offen Kämpfer rekrutieren, die Polizei schaut zu und jagt Gegendemonstranten.

Falls es die HDP schafft, die Zehnprozenthürde zu nehmen: Welche Erwartungen hat die Bevölkerung an die linke Opposition?

Sie kann den von Erdogan angestrebten Einmannstaat in Bedrängnis bringen und darauf hinwirken, dass er den Konflikt mit den Kurden in der Türkei beenden muss: Laut Umfragen wünschen sich das 74 Prozent der Bevölkerung.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Montag, 18. Mai 2015


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