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Erdogan angezählt

Standpunkt. Am Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. In der jetzigen Lage kommt der Abstimmung große Bedeutung zu. Die Zeit des Premiers ist abgelaufen. Alte Unterstützer wenden sich ab, den linken Kräften bieten sich Chancen

Von Tevfi Tas und Talip Güngör *

Am kommenden Sonntag sind alle wahlberechtigten türkischen Staatsbürger dazu aufgerufen, neue Ortsregierungen, Stadträte und Bürgermeister zu wählen. Angesichts der gegenwärtigen Lage in der Türkei wird sogar von den Teilen der Presse, die nachweislich von der Regierung im wahrsten Sinne des Wortes gekauft sind, eingeräumt, daß die Bedeutung dieser Kommunalwahlen weit über ihre lokale Begrenztheit hinausgeht. Deshalb ist es gewiß keine Übertreibung, die anstehenden Abstimmungen zu einer »Schicksalswahl« für das Land zu erklären.

Riß im Machtgefüge

Die allein regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die sich zum Ziel gesetzt hat, alle historischen und demokratischen Errungenschaften der Ersten Republik [1] zu tilgen, ist im Gegensatz zu oft gehörten Einschätzungen mitnichten eine gewöhnliche Systempartei. In den bislang elf Jahren ihrer Machtausübung zeigte sie sich imstande, ein neues Regime zu installieren und das alte zu delegitimieren bzw. zu eliminieren. Diese Partei, die das Land und die Städte dem Kapital zur Plünderung anheimgegeben hat, versucht nun, ihre schwindende Macht durch einen Sieg bei den Wahlen am 30. März zu stabilisieren. Premierminister Recep Tayyip Erdogan und die AKP, der er vorsteht, betrachten die Kommunen lediglich als ein Feld der Gewinnmaximierung für Unternehmen. Das ist für sich genommen nichts Außergewöhnliches. Es ist das A und O der neoliberalen Politik, daß kein Bereich ausgespart bleiben soll, der nicht vom Kapital durchdrungen wird.

Allerdings kennzeichnet nicht nur dieses Merkmal die Politik Erdogans und der AKP: Sie haben den klassischen Grundsätzen einer Partei des Kapitals die fundamentalistisch religiöse Umgestaltung der Gesellschaft und die Komplizenschaft mit dem Imperialismus [2] hinzugefügt. Sie haben so viel Schuld auf sich geladen, daß sie, im Falle einer Wahlniederlage, nicht einfach zur Oppositionsbank wechseln können.

Es mutet nachgerade ironisch an, daß Erdogan, der seine Macht mit Hilfe von Abhöroperationen gegenüber seinen Gegnern festigen konnte, nun selbst davon betroffen ist. In den letzten Monaten wurden zahlreiche Aufzeichnungen von Abhörprotokollen, auch von Telefonaten Erdogans, über soziale Medien lanciert. Diese belegen, daß der Premier und seine Entourage während ihrer Regierungszeit durch Korruption und Geldwäsche Milliarden von Euro verschoben und sich angeeignet haben. Deshalb erscheint es nicht abwegig, daß die amtierende Regierung nach einer Wahlniederlage entweder im Gefängnis landet oder aber gezwungen sein könnte, sich ins Ausland abzusetzen. Für Erdogan und seinen Clan ist ein dritter Weg nicht in Sicht.

Der türkische Regierungschef weigert sich anzuerkennen, daß seine Zeit abgelaufen ist. Entsprechende Signale von USA und EU, die ihn gefördert und protegiert haben, nun aber für einen sanften Machtwechsel eintreten, überhört er schlichtweg. Am Vorabend der Wahlen ist er machtbesessener denn je. Das AKP-Regime, dessen Politik den Interessen der werktätigen Massen von Anfang an schroff widersprach, ist mittlerweile auch zu einem ernstzunehmenden Risiko für den US-Imperialismus und seine Interessen in dieser Region geworden.

Die schweren und lang andauernden Proteste des vorigen Sommers müssen dabei als erster ernsthafter Riß im Machtgefüge Erdogans betrachtet werden. Der damals 14jährige Berkin Elvan, der am 16. Juni 2013 durch eine von einem Polizisten gezielt abgefeuerte Gaskartusche lebensgefährlich am Kopf getroffen wurde und ins Koma fiel, erlag am 12. März 2014 seinen Verletzungen. Sein Tod hat die Wut breiter Bevölkerungsschichten neuerlich befeuert und wurde zum Fanal wieder entflammter Proteste von Millionen Menschen in der ganzen Türkei gegen die AKP-Diktatur. Die Veröffentlichung der Abhörprotokolle zur Verwicklung von Regierungsmitgliedern in Korruptionsaffären und die darauf folgenden Säuberungen innerhalb des Staatsapparates spielten bei den Protesten gleichwohl eine wesentliche Rolle.

Damit dürfte klar sein, warum diesen Kommunalwahlen eine solch herausragende Bedeutung zukommt: Die AKP-Regierung scheint ihre Legitimation verloren zu haben und sich auf dem absteigenden Ast zu befinden. Entscheidend wird sein, welche Rolle die linken Kräfte in dieser schwierigen Phase spielen werden.

Linke Kommunalpolitik

An den Wahlen nehmen im linken Lager drei sozialistische, eine sozialdemokratische und eine von der kurdischen Nationalbewegung im Westen des Landes etablierte Partei teil. Es sind dies: TKP (Kommunistische Partei der Türkei), ÖDP (Partei für Freiheit und Solidarität), EMEP (Partei der Arbeit), CHP (Republikanische Volkspartei) sowie BDP/HDP (Partei für Frieden und Demokratie/Demokratische Partei der Völker). Die TKP nahm an den Kommunalwahlen vom 18. April 1999 noch als SIP (Partei der Sozialistischen Macht) teil und erhielt 22825 Stimmen. Als TKP erreichte sie bei den Parlamentswahlen am 28. März 2004 85188 und bei den Wahlen vom 29. März 2009 87182 Stimmen. Die ÖDP kam am 18. April 1999 auf 263814, am 28. März 2004 auf 120406 und am 29. März 2009 auf 70027 Stimmen. Die EMEP erreichte am 18. April 1999 29499, am 28. März 2004 18695 und am 29. März 2009 45761 Stimmen.[3]

Die legale Partei der kurdischen Nationalbewegung, BDP, hat zurzeit 26 Abgeordnete im Parlament. Im Kommunalen Bereich stellt sie 97 von 2919 Bürgermeistern in der gesamten Türkei. 235 von 3281 Provinzabgeordneten sowie 1169 von 32392 Stadtteilvertretern tragen das Mandat der BDP. Die HDP, die von der kurdischen Nationalbewegung in Zusammenschluß mit einigen linken Gruppierungen im Westen des Landes ins Leben gerufen wurde, wird am 30. März 2014 erstmals an Kommunalwahlen teilnehmen.

Die kurdische Nationalbewegung hat in den Städten und Kreisen, wo sie die Mehrheit erringen konnte, mit zwei grundlegenden Widrigkeiten zu kämpfen. Erstens die Repressalien des türkischen Staates und zweitens das eingeengte Politikfeld einer auf Ethnizität begründeten Kommunalpolitik. Die Konzepte, die sie gegen diese Probleme anführte, waren zum einen der sogenannte Friedensprozeß, auf den sie sich parallel zu ihrem bewaffneten Kampf mit der Regierung einließen, und zum anderen auf der kommunalen Ebene die Einführung der Zweisprachigkeit bei den Amtsgeschäften sowie die sogenannte Doppelspitze (je eine Frau und ein Mann) bei den Ämtern. Erwähnung sollte an dieser Stelle auch das von der Stadt Diyarbakir initiierte »Frauenhaus« finden. Alle anderen kommunalen Aktivitäten der BDP-Räte jedoch unterscheiden sich nicht grundlegend von der Praxis anderer kommunaler Verwaltungen, seien sie sozialdemokratisch oder von rechten Parteien dominiert: die Beschäftigung von Leiharbeitern, der Ausverkauf kommunaler Liegenschaften, die Demontage sozialer Leistungen, usw. Man konnte und wollte keine alternative, gemeint ist hier eine sozialistische, Kommunalpolitik betreiben. Den Zwängen des Staates leistete man zwar Widerstand, aber den Zwängen des Kapitalismus wurde nichts entgegengesetzt. Das bedeutet, auf gesamttürkischer Ebene spielt die BDP eine progressive Rolle, indem sie gegen die Repressalien des Staates ankämpft, die dieser gegen die Rechte der Kurdinnen und Kurden zur Anwendung bringt. Auf kommunaler Ebene läßt sich davon nicht sprechen. Hier betreibt die BDP nicht selten das Geschäft der Kapitalinteressen.

So scheint der Plan des AKP-Regimes, gesellschaftliche Hegemonie auszuüben, indem die Religion ein immer gewichtigerer Bestandteil des politischen Alltags wird, auch in den kurdischen Provinzen aufzugehen. Sogar hinsichtlich der Neoliberalisierung der Trinkwasserversorgung, folgt die BDP der Redeweise der AKP und spricht davon, »Gottes Wasser für Geld zu verkaufen«, anstatt zu betonen, daß Trinkwasser ein Grundrecht und keine Handelsware ist. Der jetzige Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Aydemir, kandidiert am Sonntag in der Provinzhauptstadt Urfa. Bei all seinen Wahlkampfauftritten rekurriert er auf den Koran. Abgesehen davon, daß er der BDP angehört, unterscheidet er sich in seinem Habitus und in seinen Reden kaum von einem AKP-Mitglied.

Außerdem müssen wir noch die gemeinsamen Kandidaturen linker Kräfte in einzelnen Städten erwähnen. So tritt das TKP-Mitglied Özcan Kaya als gemeinsamer Kandidat von TKP, ÖDP, der Volkshäuser und der EHP (Partei der Werktätigen) in Ankara gegen den CHP-Kandidaten Nansur Yavas, der als ein ehemaliger Faschist bekannt ist, an. In Dersim kandidiert Ali Tecer als gemeinsamer Kandidat aller linken Kräfte.

Die Türkei kannte bisher drei Arten von kommunaler Politik. Die konservative, die sozialdemokratische und die sozialistische. Konservative Kommunalpolitik unterscheidet sich von sozialdemokratischer bestenfalls in Nuancen. Beide betreiben ihr Geschäft um der Gewinnmaximierung der Unternehmen willen, haben sich mithin dem Kapital freiwillig untergeordnet. Beide hängen dem Heilversprechen einer neoliberalen Kommunalpolitik an. Am wenigstens bekannt ist die sozialistische Kommunalpolitik. Deren Platz ist bisher die Straße, im Mittelpunkt steht der Bürger.

Im kapitalistischen System sind ihr enge Grenzen gesetzt. Das heißt aber nicht, daß sie den Interessen des Kapitals völlig machtlos gegenübersteht und den neoliberalen Positionen nichts entgegenzusetzen weiß. Es gibt zumindest Nischen, in denen sich eine sozialistische Alternative ansiedeln kann. Die im regionalen bzw. städtischen Bereich vorhandenen Potentiale können dazu genutzt werden, den Weg zur politischen Machtübernahme auszuloten und zu ebnen. Diesen Weg über die Kommunalpolitik zur Machtübernahme des Zentralstaates ist die AKP auch gegangen. Der Aufstieg Erdogans und seiner Partei begann in der Kommunalpolitik. Hier läßt sich im kleinen Maßstab zeigen, wie es besser gehen kann. Es bietet sich die Möglichkeit, die Massen direkt zu erreichen und mit der Bevölkerung gemeinsam für fundamentale Änderungen zu kämpfen.

Der Spielraum für eine sozialistische Politik wird um so größer, je mehr die Krise des türkischen Kapitalismus und des politischen Systems sich verstärkt. Der Juniwiderstand hat gezeigt, auf welche fortschrittlichen Kräfte sich die sozialistische Bewegung stützen kann: auf die Arbeiter, Schüler und Studenten, auf die Feministinnen, die Aleviten, die kurdischen Werktätigen, die Homosexuellen, die armen Bauern, die Obdachlosen.

Der Wind hat sich gedreht

Eine wesentliche Lehre der Proteste des vergangenen Sommers lautet: Der sogenannte politische Islam hat in der Türkei eine Niederlage erlitten. Erdogan und seine Kamarilla, die als Stellvertreter des Imperialismus in Syrien agieren, haben es vermasselt. Nicht weniger als einen Monat lang beherrschte das Volk die Straßen – ein Alptraum für die Regierung. Seit diesen Junitagen ist Erdogan nicht mehr Herr der Lage in der Türkei. Er kann getrost als Getriebener bezeichnet werden.

Das, was sowohl dem politischen Islam wie auch Erdogan das Vertrauen des Kapitals und vor allem der USA entzog, war die Widerstandskraft der Massen, derer der Premier nicht Herr zu werden vermochte. Er hatte das Widerstands­potential der aufgeklärten und fortschrittlichen Kräfte in der Türkei unterschätzt. Wie sich herausstellte, war die türkische Bevölkerung in Wahrheit keine leichte Beute für eine Politik der Islamisierung. Die Frauen begannen den ihnen in dieser rückwärtsgewandten Politik zugewiesenen gesellschaftlichen Platz zu hinterfragen und widersetzten sich schließlich. Die Aleviten haben sich den Vorgaben der AKP, sich zwischen Diskriminierung und Assimilierung zu entscheiden, nicht gebeugt. Die Arbeiter haben sich der Politik der Entrechtung, der Leiharbeit, der Werkverträge und der Beschneidung ihrer gewerkschaftlichen Rechte erwehrt. Die Bauern rebellierten gegen die Austrocknung ihrer Flüsse und Bäche zum Zwecke der Energieversorgung und haben den Kampf gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen vielfach gewonnen. Die Jugend ist aufgestanden für eine kulturelle Vielfalt und gegen ein urbanes Leben, das nach Vorstellung der AKP zwischen Moschee und Einkaufszentren eingekeilt sein sollte. Als das Regime dem Volk vorschreiben wollte, wie es zu leben und wieviel es zu trinken habe und wie viele Kinder es bekommen solle, da rief man ihm entgegen: »Es reicht!«

Die Zweite Republik, die von der AKP-Regierung ausgerufen wurde, zeigt Auflösungs­tendenzen.[4] Der Abbau aller historischen wie gesellschaftlichen Errungenschaften der Ersten Republik, so gering sie auch sein mögen, ist vor allem für das US-Kapital von enormer Bedeutung. Daher lag es nahe, daß das Schicksal eines 75-Millionen-Volkes in einer strategisch so wichtigen Region nicht einem Erdogan mit seinen Alleinherrschaftsansprüchen überlassen werden konnte. So war es folgerichtig, daß die Einsatzorder zur Durchsuchung von Wohnungen von mehreren Ministersöhnen und Bankdirektoren am 17. Dezember des vergangenen Jahres direkt aus den USA kam. Ausführendes Organ war die Gülen-Bewegung, die eine große Nähe zu den politischen Eliten der Vereinigten Staaten hat.[5] Daß die USA und die Gülen-Bewegung die Erdogan-Regierung abgeschrieben haben, bedeutet derweil nicht, daß sie damit auch das Projekt einer Zweiten Republik aufgegeben haben. Der Kolumnist der Tageszeitung Zaman, Hüseyin Gülerce, der als Sprecher der Bewegung in der Türkei gilt, schrieb am 25. Dezember, also wenige Tage nach den Durchsuchungen: »Auch wenn ich nach den letzten Ereignissen kein Freund der AKP-Regierung mehr bin, werde ich meine Wahl nach den Interessen meines Wohnortes Yalova treffen. Mein Entschluß steht fest. Meine Stimme als Hüseyin Gülerce wird an die AKP gehen. Den Flächenbrand können wir noch löschen.« Was man diesem Artikel entnehmen kann, ist, daß die Gülen-Gemeinde und damit indirekt die USA zwar den Abgang von Erdogan betreiben, gleichwohl aber für die Fortdauer des AKP-Regimes eintreten.

Dabei besteht die Sorge, daß sich der Spielraum der Opposition, einer dezidiert sozialistischen gar, vergrößern könnte. Daher soll verhindert werden, daß sich in dieser heiklen Phase der Unmut der Massen erneut auf den Straßen artikuliert. Als veraltet erachtete sozialistische Ideen könnten bei der Bevölkerung neuen Anklang finden. Diese Furcht scheint berechtigt: Beim Abschied von Berkin Elvan in Istanbul waren nach konservativen Schätzungen 700000 Menschen auf den Straßen. Millionen waren es, wenn man die Menschen in allen anderen Städten der Türkei hinzu rechnet.

Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, daß auch die nationalistischen oder liberal-konservativen Kräfte erstarken. Schon gibt es im Westen des Landes Übergriffe gegen die BDP/HDP-Wahlbüros von nationalistischen Schergen, unterstützt vom Staatsapparat.

Für Unruhe im Land könnte auch die Gewalt der militanten Jugendorganisation der AKP, der »Akgenclik«, sorgen. Diese weithin als »Akkefenliler« (Die in weißem Totentuch) bekannten Gruppen ähneln stark den »Braunhemden« der Nazis.

Die letzten und wirksamsten Mittel, die von der AKP zur Anwendung kommen könnten, heißen Betrug und Korruption. Die Partei ist darin sehr geübt. Es ist bekannt, daß die in den Wahllokalen eingesetzten Sicherheitskräfte bei der letzten Abstimmung mehrere Stimmzettel eingeworfen haben. Bei landesweit 194310 Wahllokalen, käme man bei fünf zusätzlichen Zetteln auf knapp eine Million Extrastimmen zugunsten der AKP.

Machtübernahme alternativlos

Die Entwicklungen des letzten Jahres eröffnen den revolutionären Kräften unerwartete Möglichkeiten, sich zu organisieren und in das Tagesgeschehen einzugreifen. Dabei darf sich die Linke in der Türkei nicht zwischen der kemalistischen CHP und der kurdischen Nationalbewegung zerreiben lassen. Die türkische Gesellschaft braucht eine unabhängige, sozialistische Kraft.

Sozialistische Kommunalpolitik darf nicht dem Mißverständnis aufsitzen, daß sozialistisch regierte Kommunen Oasen in der kapitalistischen Wüste sein können, sondern muß als ein Mittel eingesetzt werden, den Weg zur Befreiung von Kapitalismus zu beschreiten. Die größte Gefahr besteht darin, in der Kommunalpolitik eine Alternative zur Machtübernahme zu sehen und dadurch das eigentliche Ziel zur Überwindung des kapitalistischen Systems aus den Augen zu verlieren. Mann kann die Machtstrukturen, die wirtschaftlich und politisch zentral besetzt sind, nicht ohne eine politische Revolution verändern. Die Kommunalpolitik und die kommunale, lokale Arbeit muß der Perspektive dienen, diese Machtstrukturen im Sinne der werktätigen Bevölkerung zu verändern.

Kurz vor den Wahlen ist die Lage sehr instabil. Es kann noch viele Überraschungen geben. Diese Kommunalwahlen sind auch eine Gelegenheit zu zeigen, daß der Sozialismus für die Türkei eine echte Alternative darstellt und daß dieses Ziel erreichbar ist. Es ist wohl die einzige Konstante in diesen Tagen, daß der Klassenkampf auf kommunaler und auf Landesebene ohne Unterbrechung weitergehen wird.

Anmerkungen
  1. Mit dem Begriff der Ersten Republik soll an dieser Stelle die alte laizistische türkische Republik verstanden werden, die allen, bisweilen drastischen Einschränkungen zum Trotz gewisse Bürgerrechte, darunter etwa das Frauenwahlrecht, realisiert und anerkannt hatte. Demgegenüber läßt das von der AKP aus der Taufe gehobene Projekt einer Zweiten Republik bei formaler Wahrung des bestehenden politischen Systems erkennen, daß die Gewaltenteilung des bürgerlichen Verfassungsstaates Schritt für Schritt aus den Angeln gehoben wird, beispielsweise indem die Unabhängigkeit der Judikative immer wieder beschnitten wurde. Die Begriffe Erste und Zweite sind keine feststehenden, allgemein anerkannten Termini und finden auch bei der AKP keine Verwendung. Von einer Zweiten Republik sprachen anfangs vor allem linksliberale Intellektuelle, die in die Regierungsübernahme der AKP zunächst große Hoffnungen setzten. Erwartet wurde eine Ausweitung demokratischer Rechte bei Ablösung der alten kemalistischen Eliten. Letzteres trat ein, ersteres nicht.
  2. Auf außenpolitischer Ebene verfolgte die AKP im Verbund mit dem US-Imperialismus das strategische Projekt eines neoosmanischen Reichs, also die Schaffung einer Machtbasis im Nahen Osten. Das zeigte sich daran, daß eine offene Einmischung in die Angelegenheiten arabischer Staaten erfolgte, so in der deutlichen Unterstützung der Muslimbrüder in Ägypten. Eine solch offene Machtpolitik war in der Türkei vor Regierungsantritt der AKP unbekannt.
  3. Die Zahl der Wahlberechtigten kann nicht exakt angegeben werden. Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 75 Millionen werden rund 50 Millionen Wahlberechtigte vermutet. 100000 abgegebene Voten zugunsten einer Partei entsprächen dann ungefähr 0,2 Prozent.
  4. siehe Fußnoten 1 und 2
  5. Die Gülen-Bewegung ist eine transnationale religiöse und soziale Bewegung, die von dem türkischen islamischen Gelehrten Fethullah Gülen geführt wird. Oft wird sie als »modern islamisch« bezeichnet. Andere sehen in ihr eine »sektenähnliche Organisation«. Fethullah Gülen lebt seit 1999 im selbstgewählten Exil in Pennsylvania, USA. Schon als junger Mann gehörte Gülen zu den Gründern der »Vereine zur Bekämpfung des Kommunismus«, einer vom US-Geheimdienst CIA aufgebauten Gladio-Struktur zur Sammlung türkischer Faschisten. Ein fanatischer Haß auf alles Linke ist bis heute ein ebenso prägendes Element von Gülens Weltanschauung wie sein großtürkischer Chauvinismus (siehe jW-Thema vom 31.12.2013).
* Tevfi Tas und Talip Güngör sind Mitglieder des Deutschland-Komitees der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP)

Aus: junge Welt, Freitag, 28. März 2013



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