Angst vor Katzen
Wahlbetrug bei Parlamentswahl in der Türkei befürchtet. Toter bei Terror gegen linke Partei HDP
Von Nick Brauns *
Die Parlamentswahl in der Türkei am Sonntag
(7. Juni] hat eine besondere Bedeutung für das Land. Erklärtes Ziel von Staatspräsident Recep Tayyip Erdo?an ist eine verfassungsändernde Mehrheit für seine seit 13 Jahren alleine regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), um damit die Republik in ein auf ihn zugeschnittene Präsidialsystem umzuwandeln. Nach Überzeugung der Oppositionsparteien würde Erdo?an damit zu einem »gewählten Diktator«.
Entsprechend groß ist die Furcht vor Wahlfälschungen. Bereits bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr war es während der Stimmauszählung zu Stromausfällen in etwa 40 Orten einschließlich der Hauptstadt Ankara gekommen. Danach führte plötzlich die zuvor zurückliegende AKP. Der Energieminister beschuldigte damals in Trafostationen eingedrungene Katzen, die Pannen verursacht zu haben.
Zehntausende Wahlbeobachter der Opposition sollen am Sonntag verhindern, dass Manipulationen vorgenommen werden. »Wenn ihr die Wahlurnen aus den Augen lasst, um zu feiern, dann gebt ihr den Dieben eine Chance«, warnte der Kovorsitzende der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirta?, seine Anhänger.
Am Ergebnis der HDP entscheiden sich die Pläne Erdo?ans. Sollte diese Dachorganisation aus kurdischen und sozialistischen Parteien sowie Vertretern ethnischer und religiöser Minderheiten die Zehnprozenthürde überschreiten, hätte die AKP keine Chance auf eine verfassungsändernde Mehrheit und wäre womöglich auf einen Koalitionspartner angewiesen. Im Falle eines Scheiterns der HDP fielen dagegen fast alle der rund 50 Abgeordnetenmandate aus den kurdischen Landesteilen an die dort zweitplatzierte AKP.
Letzte Prognosen des renommierten Meinungsforschungsinstituts Konda sehen die HDP bei 12,6 Prozent der Wählerstimmen, während die AKP von bislang 50 auf 41 Prozent abstürzen würde. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) kämen auf 27,8 beziehungsweise 14,8 Prozent.
Um die HDP unter der Hürde zu halten, setzt die Regierung auf Einschüchterung. Während Antiterroreinheiten der Polizei in den vergangenen Tagen Dutzende HDP-Mitglieder festnahmen, eskalierte der Terror faschistischer Banden gegen die linke Partei immer weiter. So wurde der Fahrer eines HDP-Wahlkampfbusses, Hamdullah Ö?e, in der Nacht zum Donnerstag auf dem Weg zu seiner Wohnung in der kurdischen Provinz Bingöl von Unbekannten ermordet. Die in der Nähe des Busses aufgefundene Leiche wies schwere Folterspuren und über 30 Einschüsse auf.
Wenige Stunden zuvor hatte Erdo?an auf einer Kundgebung in Bingöl eine Hetzrede gegen Minderheiten gehalten. »Die armenische Lobby, Homosexuelle und diejenigen, die an ein ›Alevitentum ohne Ali‹ glauben – alle diese Repräsentanten des Aufruhrs sind die Sponsoren der HDP«, sagte der Präsident. Der HDP-Abgeordnete Idris Baluken beschuldigte auf der von Tausenden Trauernden gesäumten Beerdigung Ö?es, »Contra-Abteilungen der AKP« den HDP-Aktivisten ermordet zu haben.
Unterdessen griff am Donnerstag in der ostanatolischen Stadt Erzurum ein Mob aus AKP-Anhängern und faschistischen »Grauen Wölfen« Teilnehmer einer HDP-Kundgebung an. Die Faschisten versuchten, den Fahrer eines mit einer Fahne der Linkspartei geschmückten Kleintransporters in dem Wagen lebendig zu verbrennen. Der Mann erlitt schwere Brandverletzungen. Die Polizei hielt sich während der Angriffe zurück, setzte aber anschließend Wasserwerfer gegen die HDP-Anhänger ein.
Der Menschenrechtsverein IHD zählte in einem am Donnerstag veröffentlichten Untersuchungsbericht 168 Angriffe auf Parteibüros, Kundgebungen und Mitglieder der HDP einschließlich Bombenanschlägen und Brandstiftungen während des Wahlkampfes. Bereits am Mittwoch hatten in Istanbul Angreifer die Redaktionsräume der Zeitschrift Politika Gazetesi gestürmt und die Technik zerstört. Bei den bewaffneten Männern habe es sich vermutlich um Zivilpolizisten gehandelt, berichtete ein Mitarbeiter der Zeitung, die der Kommunistischen Partei der Türkei nahesteht und zur Wahl der HDP aufruft.
* Aus: junge Welt, Samstag, 6. Juni 2015
Anschlag auf die HDP
Diyarbakir: Mindestens zwei Tote bei Explosionen während Wahlkampfkundgebung der Linkspartei. Türkei wählt am Sonntag **
Zwei Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei sind bei einem Bombenanschlag auf eine Wahlkampfveranstaltung der Linkspartei HDP im Südosten des Landes mindestens zwei Menschen getötet worden. Mehr als 100 Menschen wurden bei der Kundgebung in Diyarbakir am Freitag verletzt, wie der türkische Landwirtschaftsminister Mehdi Eker der Nachrichtenagentur Anadolu sagte. Die Demokratische Partei der Völker (HDP), die von kurdischen und linken Bewegungen unterstützt wird, könnte bei der Parlamentswahl am Sonntag die Zehn-Prozent-Hürde überspringen.
Zehntausende Anhänger der HDP hatten sich am Nachmittag auf einem großen Platz in Diyarbakir versammelt, um den Ko-Vorsitzenden der Partei, Selahattin Demirtas, zu hören, als sich die beiden Explosionen ereigneten. Rettungskräfte sagten, insgesamt würden 133 Menschen mit Verletzungen behandelt. 25 Menschen schwebten demnach in Lebensgefahr. Andere Quellen sagten, zwei weitere Menschen seien getötet worden. Dies wurde zunächst nicht offiziell bestätigt.
Die Explosionen führten zu wütenden Protesten der HDP-Anhänger, die Steine auf Polizisten warfen. Diese reagierten mit dem Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas. Demirtas, der im Moment der Explosionen gerade das Wort ergreifen wollte, rief seine Anhänger zur Ruhe auf. »Unsere Freunde müssen sehr vorsichtig sein und den Provokationen nicht nachgeben«, sagte er. »Ich habe zwei Explosionen innerhalb von rund fünf Minuten gehört«, berichtete der 58 Jahre alte Burhan Kabak. »Ich habe viele verletzte Menschen auf dem Boden gesehen. Da war so viel Blut.« Der 20 Jahre alte Student Mervan sagte: »Sie haben versucht, uns zu töten, aber wir werden am Sonntag gewinnen.«
Am Abend dauerten die Zusammenstöße zwischen der Polizei und jungen Demonstranten in mehreren Vierteln Diyarbakirs weiter an. Der Wahlkampf war schon zuvor von zahlreichen Gewalttaten geprägt gewesen, die sich vorwiegend gegen die HDP richteten. Erst am Mittwoch abend wurde der Fahrer eines Busses mit dem Emblem der Partei in Bingol durch Schüsse getötet. Im Mai gab es zudem Explosionen in HDP-Büros in Adana und Mersin, bei denen mehrere Menschen verletzt wurden.
Die HDP hat sich als Sammelbecken all jener positioniert, die unzufrieden mit der aktuellen Regierung der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sind. Schafft die HDP am Sonntag den Sprung ins Parlament, stellt sie mindestens 60 Abgeordnete. Sie würde es damit für die regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan schwierig machen, ihr Wahlziel von mindestens 330 Abgeordneten zu erreichen. Diese Zahl ist notwendig, um Erdogans Pläne zur Änderung der Verfassung umzusetzen, um die Vollmachten des Präsidenten zu stärken. Der Staatschef hat die HDP deshalb im Wahlkampf wiederholt scharf angegriffen.
** Aus: junge Welt (online spezial), Samstag, 6. Juni 2015
Vision der "neuen Türkei" verlockt
Bei der Parlamentswahl am Sonntag geht es vor allem um eine Person: Präsident Erdogan ***
Die Türken entscheiden über ein neues Parlament und damit für oder wider die Großmachtträume ihres Staatspräsidenten Erdogan.
Wenn Can seine Meinung zu Erdogan kundtut, braucht man Zeit. Oder, noch besser, Ohrstöpsel. »Welche Wahl? Das hier ist Faschismus, Nazismus. Das ist keine Demokratie, das ist Diktatur.« Can sitzt auf den Stufen des Gezi-Parks. Dort, wo vor zwei Jahren Zehntausende Türken gegen Polizeigewalt und das autoritäre System ihres Landes protestierten. Heute schaukeln dort Mütter ihre Kinder, gibt es gesalzenen Mais im Plastikbecher und baumeln Wimpel von CHP und AKP zwischen den Bäumen.
Nein, er sei nicht links, »und Kurde schon gar nicht«. Wenn am Sonntag in der Türkei ein neues Parlament gewählt wird, will der 32-Jährige trotzdem die HDP wählen. Die neue Partei aus Linken, Liberalen und Kurden ist aus Sicht von Türken wie Can die letzte Chance, dass »Erdogan unser Land nicht zur Diktatur macht«.
Es geht um vieles bei dieser Parlamentswahl, vielleicht um so viel wie noch nie. Und dennoch geht es eigentlich nur um einen, der von Amts wegen gar nichts mit dieser Wahl zu tun haben dürfte: Recep Tayyip Erdogan. Das Parlament will er entmachten, die Verfassung überarbeiten, die Exekutive auf den Präsidenten, auf sich übertragen. »Er tut nicht einmal so, als schere er sich um die Verfassung«, sagt Cen, dessen Wutausbrüche nur gelegentlich vom Zug an der Zigarette unterbrochen werden. Und tatsächlich hört man Namen wie den von AKP-Chef und Premierminister Ahmet Davutoglu so gut wie nie, wenn man in Istanbul Menschen nach ihrer Meinung zur Zukunft der Türkei fragt.
»Erdogan ist der Einzige mit einer Vision für unser Land«, sagt Metin. Der 34-Jährige betreibt einen Bekleidungsshop am Istanbuler Taksim-Platz. »Schau dich doch einfach mal um, was Erdogan erreicht hat.« Über den belebten Platz, der durch seine Tränengasorgien weltbekannt wurde, fährt eine Kehrmaschine. Die Cafés sind voller Touristen. Ein paar hundert Meter entfernt wartet eine riesige Baugrube darauf, mit dem nächsten Hochhaus gefüllt zu werden. »Vor 20 Jahren waren wir noch alle Bauern. Ich will diese Zeit nicht zurück, keiner will das«, so Metin.
Dreimal hat Erdogan die AKP nun schon zum Wahlsieger gemacht, jedes Mal gewann sie mehr Sitze im Parlament von Ankara. Auch an diesem Sonntag gibt es keinen Zweifel, dass die AKP ein viertes Mal gewinnen wird. Irgendetwas um die 40 Prozent, lauten die Prognosen. Nie war Erdogan so mächtig wie heute, auch, weil es nie so einsam um ihn war. Der gemäßigte Ex-Staatspräsident Abdullah Gül, die Milli-Görüs-Bewegung, der Prediger Fethullah Gülen, die einst so mächtigen Militärs, die Gezi-Park-Bewegung, PKK-Chef Öcalan: Sie alle spielen in diesem Wahlkampf kaum noch eine Rolle.
Davon, dass mit der Macht Erdogans auch die der Türkei wachsen wird, sind seine Anhänger überzeugt. »Wir bauen den größten Flughafen der Welt«, steht auf einem der AKP-Wahlplakate. Es ist nur eines der Megaprojekte, mit denen die Partei einen Teil der Wähler mit dem eigenen Großmachtanspruch elektrisiert und den anderen Teil kopfschüttelnd zurücklässt. Vor einem Jahr eröffnete in Ankara Erdogans neuer Präsidentenpalast. Mehr als 400 Millionen Euro soll das Gebäude gekostet haben, das 30 Mal so groß ist wie das Weiße Haus. Selbst das Wahlkampfplakat, auf dem ausnahmsweise neben Erdogan auch einmal Ministerpräsident Davutoglu zu sehen ist, steht im Guinness-Buch der Rekorde als weltgrößtes. »Die neue Türkei« nennen AKP-Anhänger diese Großmachtsucht.
Erst am Mittwoch griffen Unbekannte einen Wahlkampfbus der HDP an. Der Busfahrer starb. Bei Anschlägen auf Parteibüros sind sechs Menschen verletzt worden. HDP-Chef Selahattin Demirtas ist so etwas wie der Anti-Erdogan im Wahlkampf. Neben Erdogan ist die Frage, ob es die HDP schafft, die Zehnprozenthürde zu knacken und so die Mehrheit der AKP zu verhindern, das Hauptthema dieses Wahlkampfes. Als Can von Demirtas spricht, wird seine Stimme zum ersten Mal leiser. »Die Sache mit den Kurden« fände er »auch nicht so gut«. Er spielt damit auf die Verbindungen der Partei mit der PKK an, die die Partei für viele suspekt macht. »Aber sie haben sich geändert«, sagt er. Es seien nicht nur die »Leute aus den Bergen« - so nennt Erdogan die Kurden -, die für die HDP stimmen. Für viele sei die HDP einfach die Anti-AKP-Partei. »Du hast doch gesehen, was er in Kobane gemacht hat.« Erdogans Weigerung im vergangenen Jahr, den kurdischen Kämpfern in der nordsyrischen Stadt im Kampf gegen den Islamischen Staat beizustehen, habe der HDP viele Anhänger eingebracht.
Ob das reichen wird? »Keine Ahnung, wir Türken stehen halt auf starke Anführer«, sagt Can. Zumindest in dem Punkt sind er und Metin vom Kleiderladen dann doch einer Meinung. Erdogan habe seit 20 Jahren gezeigt, dass ihn nichts stoppen kann, sagt Metin. Warum er nicht für eine der anderen Parteien stimme? »Entweder bist du mit Erdogan oder du bist gar nicht.«
*** Aus: neues deutschland, Samstag, 6. Juni 2015
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