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Zahlenpropaganda

Mit Nachrichten von Hunderttausenden Flüchtlingen aus Kurdengebieten will die Türkei eine Militärintervention in Syrien vorbereiten

Von Nick Brauns *

Versucht die türkische Regierung mit der Behauptung maßlos überhöhter Flüchtlingszahlen, vor der UN-Vollversammlung für ein direktes militärisches Eingreifen der türkischen Armee in Syrien Stimmung zu machen? Diesen Verdacht äußerte am Montag abend das Kurdische Büro für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad in Frankfurt am Main in einer Analyse. Hintergrund ist die Offensive der Dschihadistengruppe »Islamischer Staat« (IS) gegen den kurdischen Kanton Kobani. »Nun scheint das Drama der Flüchtlinge dazu benutzt zu werden, um der Türkei die Möglichkeit einer ausgeweiteten Operation gegen die Selbstverwaltung in Rojava zu bieten«, befürchtet Devris Cimen von Civaka Azad.

Am 18. September sprach der türkische Vizeministerpräsident Numan Kurtulmus auf einer Sondersitzung der Regierung von Hunderttausenden, die aus Nordsyrien fliehen werden. Aufgrund von vorliegenden Untersuchungen über eine »Fluchtwelle« von bis zu 150000 Menschen sei beschlossen worden, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Die Informationen über das Ausmaß der Fluchtbewegung sollen bereits am 16. September – einen Tag nach Beginn der IS-Offensive gegen Kobani – vorgelegen haben. Am 21. September hieß es in Medienberichten unter Berufung auf UN-Angaben, bereits 70000 Menschen seien innerhalb von 24 Stunden vor den Kämpfen aus Nordsyrien in die Türkei geflohen. Vertreter der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Grenzstadt Suruc hielten diese Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR – dessen Mitarbeiter zu dem Zeitpunkt selbst nicht in der Grenzregion waren – jedoch für deutlich überhöht und von der islamisch-konservativen Regierung beeinflußt.

»Damit eine Pufferzone errichtet werden kann, wird behauptet, daß 70000 bis 80000 Menschen hierhin geflüchtet seien«, erklärte der HDP-Abgeordnete Ibrahim Binici am Wochenende im Gespräch mit der BBC. Er bezifferte die Zahl der Flüchtlinge auf »nicht höher als 8000 bis 10000«. Bereits am 15. September, als der IS seinen Großangriff auf Kobani begann, kündigte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan an, daß das türkische Militär eine Pufferzone zwischen der Türkei und Syrien vorbereite, die auch eine Flugverbotszone umfassen solle – vorgeblich zum Schutz syrischer Oppositionsgruppen vor Regierungstruppen und zum Aufbau von Stützpunkten im Kampf gegen den IS. Diese Ankündigung erstaunt, da Erdogan zuvor noch unter Verweis auf die Sicherheit von 49 seit Juni in Geiselhaft des IS befindlichen türkischen Konsulatsmitarbeitern die Nutzung türkischer Flughäfen für US-Militäroperationen gegen den IS im Irak verweigert hatte. Die Geiseln kamen erst am Samstag frei.

Die kurdische Selbstverwaltungsregion Rojava solle durch die Türkei und ihre Verbündeten beim IS zerrieben werden, warnt Devris Cimen unter Verweis auf die fortgesetzten Waffen- und Munitionslieferungen aus der Türkei an die dschihadistischen Kämpfer. »Die Menschen aus Rojava sollen über die türkische Grenze fliehen, während der IS mit türkischen Waffen die Verteidigungskräfte von Rojava zunächst im Kanton Kobani zu vernichten sucht.« Mit der geplanten Einrichtung einer angeblichen Schutzzone könnte die türkische Armee gegen Rojava vorrücken, dessen Verteidigungseinheiten sie als PKK-Terroristen hinstellt. Offenbar nehme die Türkei einen drohenden Völkermord für die Stärkung ihrer eigenen Position in Kauf und lenke mit der Selbstdarstellung als barmherzige Helferin gegenüber den Flüchtlingen von ihrer Zusammenarbeit mit dem IS ab. Während die türkische Regierung die Flüchtlingszahlen weiter hochschraubte, wurden verwundete Kurden aus Kobani vom Militär am Grenzübertritt gehindert, meldete die Agentur Hawar. Rund 3000 Flüchtlinge seien zudem seit dem Wochenende wieder nach Kobani zurückgekehrt, um sich an der Verteidigung des Kantons zu beteiligen. Bei den seit einer Woche andauernden Kämpfen um Kobani wurden nach Angaben der Volksverteidigungseinheiten (YPG) vom Montag 232 IS-Angehörige und 32 YPG-Kämpfer getötet.

Unterdessen geht das Militär mit Gasgranaten und scharfer Munition gegen Tausende kurdische Zivilisten vor, die sich seit fünf Tagen im Grenzgebiet bei Suruc versammelt haben, um sich mit dem Widerstand in Kobani zu solidarisieren und das Eindringen von IS-Kämpfern aus der Türkei zu verhindern. Zahlreiche Menschen wurden verletzt und Medienvertreter an der Arbeit gehindert.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 24. September 2014


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