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Ausnahmezustand in Soma

Türkische Regierung weist Schuld an Minenkatastrophe von sich. Haftbefehle gegen Grubenmanager. Provinzgouverneur verhängt Versammlungsverbot, Polizei verprügelt Rechtsanwälte

Von Nick Brauns *

Die türkische Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan scheint fest entschlossen, ihre Mitschuld an dem schweren Bergwerksunglück in der westtürkischen Stadt Soma zu vertuschen. Während die Polizei in den vergangenen Tagen mit Gasgranaten und Gummigeschossen gegen regierungskritische Demonstrationen vorging, schossen sich regierungsnahe Medien auf die Soma-Holding als Alleinverantwortliche ein. 25 Führungskräfte der Bergbaugesellschaft wurden am Sonntag nach Angaben der Nachrichtenagentur Dogan Haber Ajansi festgenommen. Gegen fünf von ihnen, darunter den Chefingenieur Akin Celik, wurde Untersuchungshaft angeordnet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.

Bei dem schwersten Bergwerksunglück in der türkischen Geschichte am vergangenen Dienstag starben nach offiziellen Angaben 301 Bergleute. Gewerkschaften und Oppositionsparteien beschuldigen die islamisch-konservative AKP-Regierung, das Bergwerk an einen ihr nahestehenden Geschäftsmann verkauft zu haben. Trotz gehäufter tödlicher Arbeitsunfälle sei diesem bei seinem Sparkurs auf Kosten der Sicherheit durch staatliche Inspektoren der Rücken freigehalten worden. Der mit einer AKP-Politikerin verheiratete Minenbesitzer Alp Gürkan weist jede Mitverantwortung von sich. So habe keine gesetzliche Verpflichtung zum Bau von Rettungskammern im Bergwerk bestanden. Tatsächlich hat die Türkei die freiwillige Übereinkunft der Internationalen Arbeitsorganisation ILO für Sicherheit im Bergbau bislang nicht unterzeichnet. Überlebende Bergleute berichten, daß die Sensoren in der Mine, die bei sinkendem Sauerstoffanteil der Luft die Produktion automatisch stoppen, abgeschaltet waren. Zudem habe die Firmenleitung Warnungen über einen deutlichen Temperaturanstieg in den Stollen in den Tagen vor dem Brand ignoriert.

Zwar wurde gegen Gürkan bislang kein Haftbefehl wegen des Bergwerksunglücks verhängt. Doch möglicherweise droht dem Unternehmer in einem anderen Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer auf Konkursbetrug spezialisierten Bande eine Haftstrafe, meldete die Zeitung Hürriyet Daily News. Nachdem Behörden die Rettungsarbeiten für beendet erklärt hatten, mauerten Arbeiter am Sonntag die Zugänge zu den Bergwerksstollen zu. Nur Bergwerksinspektoren und die ermittelnden Staatsanwälte dürfen in die Nähe der Mine, die nach Angaben ihres Besitzers wieder in Betrieb genommen werden soll.

In Soma herrscht seit Sonntag ein faktischer Ausnahmezustand. Der Provinzgouverneur hat ein Versammlungsverbot unter freiem Himmel verhängt, schwerbewaffnete Kommandoeinheiten der Polizei wurden aus mehreren Städten in Soma zusammengezogen. Nur Staatsbedienstete, Rettungskräfte, ausgewählte Journalisten und Angehörige der getöteten Bergleute dürfen einen 30 Kilometer um Soma gezogenen Sperring von Polizei und Militär passieren. Zivilpolizisten und örtliche AKP-Mitglieder schüchterten die Einwohner ein, sich nicht gegen die Regierung zu stellen, berichtete Kemal Özgür Yetkin von der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer von Bursa gegenüber der Tageszeitung Todays Zaman. »Diese Regierung hat eine schlechte Erfolgsbilanz, wenn es um die Verhängung von notwendigen Strafen geht. Ich glaube nicht, daß ohne öffentlichen Druck Gerechtigkeit für Soma erreicht wird«, so Yetkin.

Am Samstag wurden zudem acht Rechtsanwälte der linksgerichteten Fortschrittlichen Anwaltsvereinigung (CHD), die zur Beratung der Familien der getöteten Bergleute nach Soma gekommen waren, festgenommen und von der Polizei mißhandelt. Der CHD-Vorsitzende Selcuk Kozagacli wurde dabei durch Handfesseln so schwer verletzt, daß er im Krankenhaus behandelt werden mußte. Haftbefehle gegen die Anwälte bestanden nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD keine. Was in Soma passiere, sei »eine praktische Übung in gewöhnlichem Faschismus«, twitterte Rechtsanwalt Efkan Bolac nach der Freilassung der Anwälte am Sonntag.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 20. Mai 2014


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