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Massen gegen Erdogan

Nach den Todesschüssen von Istanbul: Zehntausende protestieren in Köln. Türkischer Ministerpräsident verteidigt seine »Antiterroroperation«

Von Nick Brauns *

Anläßlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten am Sonnabend waren wesentlich mehr Gegner als Anhänger Recep Tayyip Erdogans in Köln. Die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) sprach von 60000 Demonstranten, die Polizei zählte 45000. Für einen zusätzlichen Mobilisierungsschub hatte die tödliche Polizeiaktion im vor allem von Aleviten bewohnten Istanbuler Arbeiterviertel Okmaydani gesorgt. Bei der gewaltsamen Auflösung einer Gedenkkundgebung für einen von der Polizei getöteten Jugendlichen war am Donnerstag der unbeteiligte 30jährige Familienvater Ugur Kurt in einem alevitischen Gebetshaus von einem Polizisten erschossen worden. Ein weiterer Mann starb während der nachfolgenden Straßenkämpfe. Erdogan rechtfertigte das Vorgehen der Polizei in seiner Kölner Rede als »Antiterroroperation«. Viele Aleviten sehen dagegen die Fortsetzung einer jahrzehntelangen, von Massakern und Diskriminierung geprägten Staatspolitik gegenüber der religiösen Minderheit.

Die Kölner Massendemonstration gegen die autoritär-neoliberale Politik der islamisch-konservativen AKP-Regierung spiegelte das Spektrum der letztjährigen Gezi-Park-Bewegung in der Türkei wider. Aleviten, die mit 400 Bussen ebenfalls aus dem europäi­schen Ausland angereist waren, stellten die große Masse der Teilnehmer, doch auch die kurdische Dachorganisation Yek-Kom war mit Tausenden Anhängern unter Fahnen von PKK-Chef Abdullah Öcalan vertreten. Kemalisten protestierten mit Bildern von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Ebenso waren zahlreiche Anhänger kommunistischer Gruppierungen präsent. Viele Demonstranten trugen gelbe Bergarbeiterhelme zum Gedenken an die über 300 Todesopfer des Grubenunglücks im westtürkischen Soma vor knapp zwei Wochen, für das sie die neoliberale Politik von Erdogans Regierung verantwortlich machen. Um Kritikern in den eigenen Reihen entgegenzukommen, hatte Erdogan vor seinem Kölner Auftritt noch schnell seinen Berater gefeuert, der mit Tritten auf einen am Boden liegenden protestierenden Bergarbeiter in Soma landesweite Empörung erregt hatte.

Fernab der Proteste, auf der anderen Seite des Rheins, feierten mehr als 15000 Fans den von einem Vorredner als »großer Führer« angekündigten Erdogan in der Lanxess-Arena in einem Meer aus türkischen Fahnen als Nationalhelden und Märtyrer des Glaubens. Heftige Schelte erteilte Erdogan deutschen Medien, die das Grubenunglück von Soma zur Verunglimpfung seiner Regierung genutzt hätten. Er verteidigte das brutale Vorgehen der Polizei gegen Proteste in der Türkei, hinter denen er eine Verschwörung »des Westens« und »terroristischer Gruppen« wähnte. Gleichzeitig beschwor Erdogan in Erinnerung an die Waffenbrüderschaft beider Völker im Ersten Weltkrieg die deutsch-türkische »Schicksalsgemeinschaft«. »Wir sind für eine Integration ohne Assimilation« – mit diesen Worten rief er die Deutschtürken dazu auf, die deutsche Sprache zu lernen, doch keinerlei Zugeständnisse bei der Bewahrung ihrer Muttersprache und Religion zu machen.

Zum Ende seiner Rede zeigte Erdogan den Rabia-Gruß, ein Symbol der ägyptischen Moslembrüder. Die vierfingrige Hand stände in der Türkei für »eine Nation, eine Fahne, ein Heimatland und einen Staat«, verkündete Erdogan. Dieses nationalistische Dogma kommt einer Kriegsansage an die Zehntausenden Aleviten und Kurden gleich, die für die Gleichberechtigung der ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei auf die Straße gegangen waren.

* Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014


Angezählter Sultan

Erdogan und der Westen

Von Nick Brauns **


Mit »Sie sind hier nicht willkommen« empfing Bild den türkischen Ministerpräsidenten zu dessen Auftritt in Köln. Das Springerblatt wirft Erdogan in einem Offenen Brief die Sperrung sozialer Medien, die Inhaftierung kritischer Journalisten und das Niederprügeln von Demonstranten vor. Ähnlich hatte zuvor Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Ankara-Besuch Erdogan die Leviten gelesen.

Dieselben Politiker und Medien hatten jahrelang geschwiegen, als laizistische Opponenten der AKP-Regierung unter fingierten Putschvorwürfen inhaftiert wurden. Sie haben zu den Massenverhaftungen Tausender kurdischer Politiker geschwiegen. Sie haben ihre Stimme nicht erhoben, als die türkische Armee Chemiewaffen gegen kurdische Guerillakämpfer einsetzte und Kinder im Gefängnis gefoltert wurden. Daß der jahrelang als demokratischer Hoffnungsträger hofierte Erdogan nun plötzlich – und nicht zu Unrecht – als orientalischer Despot porträtiert wird, hat nichts mit einer plötzlichen Änderung seiner Innenpolitik zu tun. Vielmehr hat Erdogan geopolitisch stark an Gewicht verloren.

Gleichsam als islamisches trojanisches Pferd des Westens sollten Erdogan und seine AKP im Rahmen des »Größerer Mittlerer Osten«-Projektes der USA die Führung der Moslembruderschaft übernehmen. Doch in Ägypten hat das Militär die Moslembruderschaft mit dem Segen Washingtons wieder von der Macht verdrängt, während es in Syrien den Moslembrüdern nicht gelungen ist, die Baath-Regierung zu stürzen. Statt dessen unterstützte die AKP Gotteskrieger von Al-Qaida, um die Etablierung einer kurdischen Autonomiezone im Norden Syriens zu verhindern. Diese massive Präsenz von Dschihadisten erscheint zunehmend als Bedrohung westlicher Interessen in der Region. Mit Goldtransaktionen unterlief die Türkei außerdem systematisch das US-Embargo gegen den Iran. Schon beim brutalen Vorgehen der türkischen Polizei gegen die landesweiten Gezi-Park-Proteste im vergangenen Sommer hatten westliche Regierungen Erdogan in ungewohnt scharfer Weise kritisiert, da sie die Stabilität des Landes und damit die Sicherheit der Kapitalanlagen gefährdet sahen.

Zweifellos erfolgte bereits der als Korruptionsermittlungsverfahren getarnte Versuch eines Justizputsches gegen Erdogans Regierung im Dezember letzten Jahres mit Zustimmung der US-Regierung. Schließlich gilt die Gülen-Gemeinde, deren Anhänger im türkischen Justiz- und Polizeiapparat das Verfahren betrieben haben, als traditionell US-nah.

Geht es nach den Regierungen in Berlin, Brüssel und Washington, dann sind die Tage des Sultans von Ankara gezählt. Die legitime Protestbewegung in der Türkei muß auf der Hut sein, um sich nicht als Werkzeug eines vom Ausland betriebenen Regimewechsels mißbrauchen zu lassen. Deshalb sollte sie für eine grundsätzliche politische Alternative sowohl zum religiös wie zum nationalistisch verkleideten Neoliberalismus eintreten, anstatt auf einer bloßen Anti-Erdogan-Position zu verharren.

** Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014 (Kommentar)


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