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Terror gegen Newroz-Fest

Dutzende Tote bei Anschlag in Rojava. Friedensbotschaft von PKK-Chef Abdullah Öcalan zum kurdischen Neujahr

Von Nick Brauns *

Blutige Anschläge im Selbstverwaltungsgebiet Rojava im Norden Syriens überschatteten die diesjährigen Feierlichkeiten zu Newroz. Das Fest wird von Kurden und anderen Völkern des Nahen und Mittleren Ostens traditionell zu Frühlingsbeginn gefeiert. In der Großstadt Al-Hasaka am Rande des Selbstverwaltungsgebietes explodierten am Freitag abend zwei Bomben in einem kurdischen Stadtviertel, in dem sich die Anwohner zu Feiern versammelt hatten. Mindestens 45 Menschen – mehrheitlich Frauen und Kinder – wurden in den Tod gerissen. Die Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) bekannte sich nach Angaben des Senders Rudaw TV zu den Selbstmordattentaten.

In Rojava wurde eine dreitägige Trauer verkündet. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte die Anschläge. Einer der Sprengsätze war vor einem Büro der in dem Gebiet führenden Volksrätebewegung »Tev Dem« detoniert, während die andere Bombe vor einem Büro der Demokratischen Partei Kurdistans-Syrien (KDP-S) zündete. Die KDP-S ist ein Ableger der in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak regierenden KDP von Präsident Massud Barsani. In Suleimanija in der nordirakischen Autonomieregion beteiligten sich unterdessen Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an einer Newroz-Parade von Peschmerga-Kämpfern – ein Symbol ihres gemeinsamen Kampfes gegen den IS.

Das diesjährige Motto für die von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ausgerichteten Newroz-Feiern mit Millionen Teilnehmern in der Türkei lautete unter Bezugnahme auf die in Syrien und Nordirak vom IS befreiten Städte: »Das Newroz-Feuer, das in Sengal und Kobani brennt, wird den Nahen Osten befreien.« Höhepunkt war die Verlesung einer von der türkischen Presse bereits als »historisch« angekündigten Botschaft des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan am Samstag vor über einer Million Menschen in der Metropole Diyarbakır. Unter dem Imperialismus seien in den vergangenen hundert Jahren die ethnischen Gruppen und Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten im Rahmen einer »Teile-und-Herrsche-Strategie« in sinnlose Kriege gegeneinander gehetzt worden. Dazu gehöre auch der IS, »hervorgelockt von den imperialistischen Kräften, die ihre Bestrebungen im Nahen Osten nicht aufgegeben haben«, erklärte Öcalan. Doch nun habe der Kampf für die Geschwisterlichkeit der Völker und den Frieden eine historische Schwelle überschritten.

Zur von der türkischen Regierung erhofften Niederlegung der Waffen rief Öcalan nicht auf. Ein Ende des 40jährigen bewaffneten Kampfes gegen die Türkei käme auf die Agenda, wenn die Prinzipienerklärung für den Friedensprozess, die Regierungsvertreter und Parlamentarier der prokurdischen Opposition Ende Februar gemeinsam vorgestellt hatten, umgesetzt wird.

Nun müssten die vereinbarte Wahrheits- und Versöhnungskommission und eine Monitorgruppe zur Überwachung der bislang hinter verschlossenen Türen stattfindenden Friedensgespräche ihre Arbeit aufnehmen. Im Gegenzug könnte die PKK einen Sonderparteitag zur Neuausrichtung ihrer Strategie abhalten.

Zweifelhaft ist, ob die in Ankara regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ernsthaft einen Friedens- und Demokratisierungsprozess anstrebt oder nicht nur angesichts der Parlamentswahlen im Juni auf Zeit spielt. So erklärte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan noch am Tag vor Newroz, er lehne die Monitorgruppe ab. Es handele sich lediglich um »persönliche Ansichten« des Präsidenten, versuchte Vizeministerpräsident Bülent Arınç anschließend diese Querschüsse herunterzuspielen.

* Aus: junge Welt, Montag, 23. März 2015


Keine Entwaffnung

Zu Öcalans Newroz-Erklärung

Von Nick Brauns **


Türkische Medien feierten Abdullah Öcalans Newroz-Erklärung, in der dieser die Völker im Nahen Osten zu Frieden und Geschwisterlichkeit aufrief, als »historisch«. Erstaunen kann Öcalans Botschaft allerdings nur diejenigen, die den Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK bislang als »Terroristenboss« und »Babymörder« ansahen. Denn wer die Politik der Partei ohne Scheuklappen verfolgt, wird eine Kontinuität bis zurück zur Verkündung ihres ersten Waffenstillstandes im Jahr 1993 erkennen. Schon damals hatte die PKK das Ziel eines unabhängigen Staates zugunsten einer demokratischen Lösung im Rahmen der Türkei aufgegeben.

Doch ihr Verhandlungspartner, Staatspräsident Turgut Özal, starb kurz darauf – vermutlich vergiftet von nationalistischen Gegnern einer Aussöhnung mit den Kurden. Nach seiner Verschleppung 1999 auf die Gefängnisinsel Imralı rief Öcalan die Guerilla zur Einstellung des bewaffneten Kampfes auf. Doch 500 Kämpfer bezahlten den Rückzug aus der Türkei mit ihrem Leben, da die Armee ihre Angriffe fortsetzte.

In den Jahren 2009 bis 2011 fanden in Oslo Geheimverhandlungen zwischen dem türkischen Geheimdienst und der PKK-Führung statt. Doch wieder sabotierten Teile des Staatsapparates die schon weit fortgeschrittene Friedensinitiative. Der Geheimdienstchef wurde sogar per Haftbefehl wegen Hochverrats gejagt. Der Beginn erneuter Gespräche im Januar 2013 wurde durch die Ermordung von drei PKK-Aktivistinnen in Paris überschattet – auch hier hatten Ultras im türkischen Staat ihre Hände im Spiel.

Zu Newroz 2013 verkündete Öcalan noch einmal den Rückzug der Guerilla aus der Türkei, »um die Tür für eine neue Phase des demokratischen Kampfes zu öffnen«. Doch die AKP-Regierung ging keinen einzigen praktischen Reformschritt. Statt dessen versuchte sie mit ihrer Unterstützung für die Gotteskrieger des »Islamischen Staates«, die Etablierung einer kurdischen Autonomie im Norden Syriens zu verhindern.

In seiner diesjährigen Newroz-Erklärung zum kurdischen Neujahrsfest hat Öcalan abermals deutlich gemacht, dass er für ein Ende des bewaffneten Kampfes gegen die Türkei eintritt. Voraussetzung ist aber, dass auch die AKP-Regierung endlich ihrer Verantwortung im Friedensprozess nachkommt. Wie illusorisch allerdings deren Forderung nach einer Entwaffnung der Guerilla ist, machen schon die blutigen Anschläge des IS am Samstag auf ein Fest in Al-Hasaka im Nordosten Syriens mit mindestens 45 Toten deutlich. So viele Opfer während Newroz waren zuletzt im Jahr 1992 zu beklagen, als die türkische Armee das Feuer auf Feiernde eröffnete.

Entwaffnung wäre in einer Situation, in der die PKK und ihre Verbündeten in Syrien und dem Irak eine Lebensgarantie für Millionen Menschen darstellen, glatter Selbstmord. In der Türkei bleibt die Guerilla angesichts der Doppelzüngigkeit der AKP ein Faustpfand auf dem steinigen Weg zum Frieden.

** Aus: junge Welt, Montag, 23. März 2015 (Kommentar)


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