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Kriegserklärung aus Ankara

Türkische Armee fliegt Luftangriffe auf Stellungen der Terrormiliz IS in Syrien und das PKK-Hauptquartier im Irak. Welle von Verhaftungen Oppositioneller

Von Nick Brauns, Izmir *

Nach Angriffen auf Stellungen der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) in Syrien am Freitag hat die türkische Luftwaffe in der Nacht zum Samstag mit Bombardierungen von Stützpunkten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak begonnen. Auch das Guerillahauptquartier in den Kandil-Bergen wurde von F-16-Kampfflugzeugen attackiert. Die Angriffe galten nach Militärangaben Trainingscamps, Luftabwehrstellungen und Schutzräumen der Guerilla. Dabei wurden nach PKK-Angaben ein hochrangiger Kommandant getötet sowie mehrere Bewohner eines Dorfes verletzt. Die Operationen würden so lange fortgesetzt, wie eine Bedrohung für die Türkei fortbestehe, erklärte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Samstag nach drei Angriffswellen gegen den IS in Syrien und zwei gegen die PKK im Irak.

Zeitgleich mit den Luft- und Artillerieattacken lief über das Wochenende eine Welle von Verhaftungen druch die Türkei. Die richtete sich nach Angaben von Davutoglu gegen »den terroristischen IS, die Terrororganisation PKK und marginale linke Gruppen«. Tatsächlich wurden nach Informationen des Kurdischen Büros für Öffentlichkeitsarbeit »Civaka Azad« nur in Istanbul, Ankara und Adiyaman auch mutmaßliche IS-Mitglieder festgenommen. Dagegen handele es sich bei der Masse der nach Regierungsangaben rund 600 – laut kurdischer Medien sogar bis zu 1.000 – Festgenommenen um Mitglieder der im Parlament vertretenen linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), der PKK-nahen Patriotisch-Demokratischen Jugendbewegung (YDG-H) sowie Anhänger sozialistischer Gruppierungen wie der DHKP-C. In Ankara durchsuchte die Polizei die Zentrale der Lehrergewerkschaft Egitim Sen. Während einer Trauerfeier für eine nach Angaben ihrer Anwälte von der Polizei mit 14 Schüssen regelrecht hingerichtete DHKP-C-Aktivistin stürmten Beamte am Samstag ein alevitisches Gebetshaus im Istanbuler Stadtteil Gazi. In der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Cizre wurde in der Nacht zum Sonntag ein 21jähriger Demonstrant getötet, als Polizisten das Feuer auf protestierende Jugendliche eröffneten. Dutzende Menschen wurden zudem bei Polizeiangriffen auf Demonstrationen in Istanbul, Ankara, Izmir und Diyarbakir verletzt. Der für Sonntag in Istanbul geplante »Große Marsch für den Frieden« eines um die HDP gebildeten Bündnisses mit 100.000 erwarteten Teilnehmern wurde vom Gouverneur aus »Sicherheitsgründen und wegen hohen Verkehrsaufkommens« verboten.

Die Befreiungsbewegung fühle sich weiterhin den Friedensbemühungen ihres inhaftierten Vorsitzenden Abdullah Öcalan verpflichtet, heißt es in einer Erklärung der PKK vom Sonntag. Die Erschießung mehrerer Polizisten als Vergeltung für den von der AKP-Regierung mitzuverantwortenden IS-Anschlag an jungen Sozialisten in Suruc sei auf örtliche Kräfte zurückgegangen und habe kein Ende des vor zweieinhalb Jahren verkündeten einseitigen Waffenstillstands bedeutet. Doch angesichts der Bombardierung der Rückzugsgebiete der Guerilla sei der Waffenstillstand nun bedeutungslos geworden. »Statt eines Kampfes zwischen der PKK und dem türkischen Staat wird es jetzt einen Krieg zwischen Erdogans Diktatur und dem kurdischen Volk gemeinsam mit den demokratischen Kräften der Türkei geben«, rief die Organisation zum Widerstand gegen die Kriegspolitik des türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf. Solidarisch zeigte sich die Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee (TIKKO). In der Bergprovinz Dersim zerstörte die maoistische Guerilla beim Angriff auf einen Militärposten einen Panzer. Im der Nacht zum Sonntag starben zwei Soldaten, als eine Bombe neben ihrem Fahrzeug bei der Stadt Lice – einer PKK-Hochburg – detonierte.

Die PKK beschuldigte die Führung in Washington, Ankara im Gegenzug für die Nutzung türkischer Luftwaffenstützpunkte für den Anti-IS-Kampf grünes Licht für die Angriffe auf die Guerilla gegeben zu haben. Die Vereinigten Staaten betrachteten die PKK als terroristische Organisation und respektierten das Recht ihres NATO-Verbündeten auf Selbstverteidigung, erklärte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA gegenüber der regierungsnahen türkischen Tageszeitung Sabah. Ähnlich äußerte sich die Bundesregierung.

Der nach Angaben Ankaras vorab über die Verletzung der territorialen Integrität des Irak informierte Präsident der kurdischen Autonomieregion im Norden des Zweistromlandes, Masud Barsani, äußerte lediglich »Bedauern« über die Luftangriffe. In der Autonomieregion gingen unterdessen Tausende Menschen gegen die türkischen Attacken und Barsanis »Verrat« auf die Straße.

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Juli 2015


Bündnisfall

Kanzlerin Merkel stellt sich hinter Ankara

Von Rüdiger Göbel *


Ist Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den Bayreuther Festspielen nicht nur vom Stuhl, sondern auch auf den Kopf gefallen? Die NATO-Partner in Ankara überziehen die Türkei mit Repression sowie die Nachbarländer Syrien und Irak mit Bombenangriffen – das alles versehen mit der Lüge, den »Terrorismus« zu bekämpfen. Und was macht die Bundesregierung? Sie folgt dem Diktum Washingtons und stellt sich hinter das AKP-Regime von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Der Möchtegernsultan vom Bosporus nutzt den brutalen IS-Terroranschlag in Suruc mit mehr als 30 Toten, um endlich gegen die kurdische Freiheits- und die türkische Demokratiebewegung losschlagen zu können: Bomben auf Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Nordirak und Syrien, parallel dazu Sturm auf linke Vereine in Diyarbakir, Istanbul, Ankara und vielen anderen Städten der Türkei. Bis zu 1.000 Oppositionelle hat die AKP binnen weniger Tage wie zu alten Militärputschzeiten ausgeschaltet. Und die Kanzlerin klatscht dem Despoten Applaus, nachdem sie sich an »Tristan und Isolde« auf dem Grünen Hügel berauscht hat. Ihrem türkischen Amtskollegen hat sie »die Solidarität und Unterstützung Deutschlands im Kampf gegen den Terrorismus« zugesichert, wie sie über ihren Sprecher am Sonntag hat verlauten lassen. Sie habe in diesem Zusammenhang »an das Gebot der Verhältnismäßigkeit bei der Durchführung notwendiger Maßnahmen« erinnert und an Ankara appelliert, »den Friedensprozess mit den Kurden nicht aufzugeben, sondern trotz aller Schwierigkeiten an ihm festzuhalen«. Im Klartext: Der Schlag gegen Kurden, HDP und andere progressive Kräfte in der Türkei sowie den Nachbarländern wird von der Merkel-Regierung unterstützt, relativierende Wort sind bestenfalls schmückendes Beiwerk für kurz murrende SPD-Minister. Ein Abzug der im Südosten der Türkei stationierten »Patriot«-Staffeln der Bundeswehr ist nicht einmal angedacht.

Vor Kanzlerin Merkel hatte sich bereits die US-Führung hinter den Amoklauf des NATO-Partners Türkei gestellt. Washington begrüßte die Luftattacken gegen Stellungen des »Islamischen Staats« in Syrien und schwieg zunächst zu den Bomben auf PKK-Stellungen. Schlussendlich wurden diese offensiv verteidigt: Die Türkei habe jedes Recht, sich gegen Angriffe der PKK zu wehren, stellt das Weiße Haus wie das Kanzleramt die Realität auf den Kopf. So schnell sind aus den »Helden von Kobani« im Kampf gegen den Terror neue Feinde geworden. Zum Dank dürfen US-Kampfjets jetzt auch von Incirlik aus starten.

Nach Ankaras antidemokratischem Coup haben die kurdischen Volksverteidigungskräfte, der militärische Flügel der PKK, erklärt, der seit 2013 geltende Waffenstillstand habe »keine Bedeutung mehr«. Wenn sich die Bundeskanzlerin und der US-Präsident in einer Art NATO-Bündnisfall hinter das Vorgehen des türkischen Regimes stellen, machen sie ihre in der Türkei stationierten Truppen zu legitimen Zielen.

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Juli 2015 (Kommentar)

Statement by the North Atlantic Council following meeting under Article 4 of the Washington Treaty



The North Atlantic Council met today at Turkey’s request to hold consultations under Article 4 of the Washington Treaty, which states that “the parties will consult whenever, in the opinion of any of them, the territorial integrity, political independence, or security of any of the parties is threatened.”

Turkey requested the meeting in view of the seriousness of the situation after the recent terrorist attacks, and to inform Allies of the measures it is taking.

At its meeting today, the North Atlantic Council discussed the threats against Turkey.

We strongly condemn the terrorist attacks against Turkey, and express our condolences to the Turkish government and the families of the victims in Suruç and other attacks against police and military officers.

Terrorism poses a direct threat to the security of NATO countries and to international stability and prosperity. It is a global threat that knows no border, nationality, or religion – a challenge that the international community must fight and tackle together.

Terrorism in all its forms and manifestations can never be tolerated or justified.

The security of the Alliance is indivisible, and we stand in strong solidarity with Turkey.

We will continue to follow the developments on the South-Eastern border of NATO very closely.

28 July 2015, PR (2015) 110




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