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Erdoganismus und die Türkei in der Dauerkrise

Der Ministerpräsident regiert und verhält sich wie ein klassischer Patriarch

Von Jan Keetman *

Die Türkei ist eine Republik mit parlamentarischer Demokratie. Der Regierungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan lässt daran allerdings zweifeln.

Manchmal kann man sich ja schon die Augen reiben: »Wohin steuert eigentlich die Türkei?« Die Hälfte oder sogar etwas mehr als die Hälfte des Landes scheint Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu hassen, die andere Hälfte sieht in ihm den Messias. Er gewinnt nicht nur Wahl auf Wahl, er baut mittlerweile auch den Staat fast nach Belieben um. Um den Korruptionsskandalen im Dezember zu entgehen, hat Erdogan kurzerhand Tausende von Polizisten versetzt und eine große Zahl von Staatsanwälten. Schließlich wurden die von seiner Regierung selbst installierten »Gerichte mit besonderen Vollmachten« einfach abgeschafft. Gewaltenteilung existiert in der Türkei nur noch in Resten.

Auch eine Partei, eine Fraktion, ein Kabinett hat Erdogan nicht mehr, wenigstens wenn man von solchen Institutionen einen Rest von Eigenständigkeit erwartet. Wenn es ihm passt, stellt Erdogan seine Minister, seine Parteigranden und selbst den Staatspräsidenten Abdullah Gül öffentlich bloß – und sie lassen es sich mit leichtem Knurren gefallen. Vor allem kann es Erdogan nicht leiden, wenn seine Leute ein wenig zu beschwichtigen suchen, wo er rücksichtslos polarisieren will.

Die einzelnen Ministerien sind kaum Zentren der politischen Macht, es zählen einzig das Amt des Ministerpräsidenten und der ihm unterstehende Geheimdienst, dessen Befugnisse gerade ausgeweitet wurden. Umgeben ist Erdogan von Leuten, die ihm absolut dienen und über die er dann auch die Hand hält.

Der Kolumnist Okay Gönensin sagt, Erdogan sei ein typischer Konservativer der türkischen Provinz. Zwar ist er in Istanbul geboren, aber im kleinstädtischen Viertel Kasım- paşa. So moderne Dinge wie Gewerkschaften, Gewaltenteilung etc., das sei, so Gönensin, Erdogan eigentlich fremd. Er sei eben der klassische Patriarch.

Daran ist einiges wahr, doch Erdogan ist auch vor der extremen Ideologisierung von Staat und Gesellschaft zu sehen. Früher dienten türkische Beamte, Richter, Staatsanwälte und Soldaten dem, was sie für das Erbe Atatürks hielten. Das musste Erdogan ändern, um das Land wirklich zu beherrschen. Er tat es, indem er eine andere ideologisierte Gruppe an die Schalthebel ließ: die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Als dessen Bewegung aber zu viel Eigenleben entwickelte, begann Erdogan, diese Bewegung zu zerschlagen.

Was in diesen Kämpfen aus der Perspektive Erdogans nie vorkam, waren Leute, die nur ihre Funktion ausüben. Ein Journalist oder ein Staatsanwalt, der irgendeinen Missstand aufdeckt, tut dies – so sieht er es – immer entweder für oder gegen Erdogan. Nun formt er den ideologisierten Staatsbeamten selbst. Der Staat wird so zum bloßen Machtzentrum der Anhänger Erdogans.

Das Bemerkenswerte an diesem »Erdoganismus« ist indessen, dass er sich zum Teil aus dem Widerstand gegen Erdogan speist. Anstatt Gegner mit dem einen oder anderen Zugeständnis zu ködern, zieht es Erdogan vor, seine Widersacher schonungslos zu brüskieren und zugleich das eigene Lager mit dem Hass gegen sie emotional aufzuladen. Als »Banditen« werden sie bezeichnet oder auch mal als »gefährliche Nagetiere«. Proteste werden nicht gestattet, und das führt zu den Auseinandersetzungen, die Erdogan seinen Anhängern dann als Krawall verkauft.

Man kann sich fragen, ob es das Ziel des Erdoganismus ist, einen islamischen Staat zu schaffen. Im Moment arbeitet Erdogan wohl nicht direkt daran, er ist eher bemüht, die Religiosität insbesondere im Erziehungsbereich zu fördern, woraus sich dann vielleicht einmal ein islamischer Staat ergeben wird.

Vorerst dient die Anlehnung an den Islam vor allem einer stärkeren Abgrenzung gegenüber seinen als unislamisch dargestellten Gegnern. Außerdem passt auf das Verhältnis Erdogans zu seinen Anhängern ganz gut ein Satz vom Anfang des Korans: »Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe!«

Erdogan sitzt fest im Sattel, aber seine Wahlergebnisse sind leicht rückläufig. Beim Verfassungsreferendum 2010 erreichte er 57 Prozent, bei den Parlamentswahlen 2012 hatte seine Partei 50, bei den Kommunalwahlen im März noch 45 Prozent. Wenn es noch weniger wird, steht zu befürchten, dass Erdogan die Konfrontation noch zuspitzt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 17. Mai 2014


Revanche angesagt

Erdogan ist am 24. Mai in Köln angekündigt

Die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) in Deutschland begeht nächste Woche ihr zehnjähriges Jubiläum und hat sich zur Feier nach Köln höchsten Besuch eingeladen: keinen Geringeren als Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Ob die UETD damit gut beraten war? Schließlich pflegt Erdogan auch von Ehrenlogen aus unvermittelt garstige politische Botschaften auszustoßen.

»Ich hoffe, dass er nichts sagt, was die Spaltung vorantreibt«, sagte der neue Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Safter Cinar, am Donnerstag dem »Kölner Stadt-Anzeiger« mit Blick auf den Auftritt Erdogans am kommenden Sonnabend in der Kölner Lanxess-Arena. Cinar kritisierte das »oft aggressive Auftreten« des Ministerpräsidenten. Dieser scheine zu glauben, dass hinter den Protesten in seinem Land finstere Mächte steckten – anstatt unzufriedene Bürger.

Bereits mit dieser Bemerkung dürfte sich der mutige Vorsitzende das Wohlwollen Erdogans für die nächsten zwei Jahrzehnte verscherzt haben, zumal Erdogan offenbar genau diesen wohldosierten Ausraster plant. Aus seinem Umfeld war zu hören, dass der Premier die für ihn unerhörte Kritik des deutschen Bundespräsidenten nicht vergessen, schon gar nicht verziehen hat. Joachim Gauck hatte Ende April bei einem Besuch in der Türkei von Mangel an Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz ebendort gesprochen. Gauck, so Erdogan, habe »hässliche Dinge gesagt«, weil er sich »immer noch für einen Pfarrer hält«. Als Staatsmann habe er sich disqualifiziert.

Das verspricht ein recht undiplomatisches Wochenende zu werden. roe




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