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Massenentlassungen in türkischen Gefängnissen

Vor allem Beschuldigte im "Ergenekon"-Verschwörungsverfahren kommen aufgrund einer plötzlichen Einsicht des Regierungschefs frei

Von Jan Keetman *

Nachgerade im Dutzend werden derzeit politische Häftlinge in der Türkei freigelassen. Unter den Entlassenen sind viele Journalisten.

Die Welle der Haftentlassungen in der Türkei betraf am Dienstag vor allem einige prominente Mitglieder der angeblichen Geheimorganisation Ergenekon, denen vorgeworfen worden war, im Auftrag der Militärs den Sturz der Regierung vorbereitet zu haben. Nach den Anklageschriften soll Ergenekon Mordanschläge unter anderem auf die verschiedenen christlichen Patriarchen von Istanbul und den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk geplant haben, um die politische Situation in der Türkei zu destabilisieren. Einen wirklichen Beweis für die Existenz von Ergenekon hat die Staatsanwaltschaft allerdings nie vorgelegt. Unter den freigelassenen Journalisten fand insbesondere der Fall von Tuncay Özkan Aufmerksamkeit. Özkan war kurz nach der Beendigung einer kritischen Sendung zum Ergenekon-Verfahren selbst als Ergenekon-Mitglied festgenommen worden.

Die Freilassungen erfolgen aufgrund zweier Gesetzesänderungen. Die eine betrifft die Beschränkung der maximalen Untersuchungshaft auf fünf Jahre, die andere die Abschaffung der Gerichte mit besonderen Vollmachten. Sowohl die langen Zeiten der U-Haft als auch die Sondergerichte wurden oft kritisiert.

Zuletzt hatten sich diese Gerichte und die bei ihnen angesiedelten Staatsanwaltschaften mit der Untersuchung von Korruptionsskandalen gegen die Regierung Erdogan gewandt. Der Grund ist ein Streit zwischen Erdogan und dem Sektenführer Fethullah Gülen, dessen Anhänger in der Justiz insbesondere in den Gerichten mit besonderen Vollmachten untergekommen sind.

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu begrüßte zwar die Freilassungen, erinnerte den Premier aber zugleich daran, dass er die Arbeit dieser Gerichte jahrelang gegen Kritik in Schutz genommen hat. Erdogan hatte seinerzeit Oppositionspolitikern vorgeworfen, sie würden sich wie Anwälte in diesen Verfahren aufführen, dann sei aber er, Erdogan, der »Staatsanwalt« dort. Tuncay Özkan erinnerte nach seiner Freilassung daran, dass die Verfolgung angeblicher Ergenekon-Mitglieder sechs Jahre gedauert habe. Nun seien sie frei, aber der Zustand der Türkei sei noch immer »sehr dramatisch«.

Gerade unter den Ergenekon-Verdächtigen, die anfangs festgenommen wurden, befinden sich auch einige recht unsympathische Nationalisten. Dazu gehört der Anwalt Kemal Kerincsiz, der liberale Kolumnisten mit Strafanzeigen wegen »Erniedrigung des Türkentums« überschüttet hatte. Er erreichte damit die Verurteilung des armenischen Journalisten Hrant Dink, der daraufhin von einem Jugendlichen erschossen wurde. Ein anderer nationalistischer Wirrkopf, der nun freigelassen wurde, ist der Maoist Dogu Perincek, der in der Schweiz wegen Leugnung des Völkermords an den Armeniern vorbestraft ist. Dass zunächst vor allem solche Personen inhaftiert wurden, hatte dazu beigetragen, dem Ergenekon-Verfahren den Anschein einer gewissen Legitimität zu geben.

Freigelassen wurden auch Angeklagte aus anderen Prozessen. So der Bombenbauer Ferhat Tuncel, der auch in den Mord an Hrant Dink verwickelt war, und fünf Männer, die im April 2007 drei Mitarbeiter eines christlichen Verlages in Malatya, darunter den Deutschen Tilman Geske, bestialisch ermordet haben sollen. Sie wurden am Tatort überrascht.

Weitere Freilassungen dürften bald folgen. Am Ende könnten es Hunderte, gar Tausende sein. Die Wendung des Geschicks verdanken sie einer plötzlichen Einsicht des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dass die unter seiner Regierung eingesetzten Gerichte doch nicht rechtens sind.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 12. März 2014


Angriffe auf Linke

Faschisten attackieren im türkischen Wahlkampf Sozialisten und Kurden

Von Nick Brauns **


Wenige Wochen vor den Kommunalwahlen Ende März in der Türkei häufen sich Angriffe auf Mitglieder und Büros sozialistischer und prokurdischer Parteien. So verhinderte ein nationalistischer Mob am Sonntag in der südwesttürkischen Stadt Fethiye mit Steinwürfen und Brandsätzen die Eröffnung eines Wahlkampfbüros der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Diese Organisation, unter deren Dach die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sowie mehrere sozialistische Gruppen in der Westtürkei erstmals gemeinsam kandidieren, ist von den Attacken besonders oft betroffen. Auf Facebook war dazu aufgerufen worden, »die Partei der Terroristensympathisanten aus Fethiye zu vertreiben«. Als die anfangs rund 200köpfige Menschenmenge weiter anwuchs, ließ der den faschistischen Grauen Wölfen angehörende Bürgermeister Behcet Saatci das Schild mit dem HDP-Parteisymbol von der Feuerwehr entfernen und statt dessen eine türkische Fahne aufhängen. In den Abendstunden war der durch Faschisten aus Nachbarstädten verstärkte Mob auf mehrere tausend Menschen angewachsen. Gruppen gingen nun dazu über, Läden von Kurden und HDP-Sympathisanten anzugreifen. »Wir haben die Namen und Adressen der Kurden. Wir werden sie von hier vertreiben«, zitiert die Nachrichtenagentur ANF die Angreifer. Die Polizei habe kurdische Ladenbesitzer aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, da für ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne. Nach HDP-Angaben gab es nur durch großes Glück keine Schwerverletzten. Viele Unterstützer der linken Partei haben inzwischen die Stadt verlassen. Sozialistische Studenten, die am Montag an der Universität in Bolu gegen diese rassistischen Angriffe von Fethiye protestieren wollten, wurden von Polizisten und Faschisten gemeinsam mit Knüppeln attackiert.

Nach Angaben des HDP-Vorsitzenden Ertugrul Kürkcü kam es allein in diesem Jahr zu 20 schwereren Angriffen auf seine Partei. So hatte im Februar eine 1000köpfige Menschenmenge im Landkreis Urla in der Provinz Izmir einen Wahlkampfkonvoi der HDP mit Steinen beworfen. Und vergangene Woche mußte die HDP nach Angriffen auf den Wagen Kürkcüs eine Kundgebung in der Schwarzmeerprovinz Ordu absagen. »Wir werden niemanden anflehen, uns zu schützen. Wir können uns selber schützen«, erklärte der Abgeordnete Kürkcü, der Anfang der 70er Jahre einer sozialistischen Guerilla angehört hatte, am Montag auf einer Pressekonferenz in Istanbul. »Aber das Hauptproblem besteht darin, daß den Bürgern das Recht auf freie Wahlen genommen wird«, kritisierte er die Regierung. Die HDP will nun die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aufrufen, die Kommunalwahlen zu überwachen. »Wenn die Polizei es wollte, hätte sie diese Attacken verhindern können«, beschuldigte unterdessen der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Özgür Türkdogan, die Sicherheitskräfte, nichts gegen die Rädelsführer unternommen zu haben.

In den kurdischen Landesteilen kommt es unterdessen zu verstärkten Spannungen bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der linken kurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP und der islamistischen Hüda Par. Letztere steht in der Tradition der sunnitischen Hisbollah, die während des Krieges gegen die PKK in den 90er Jahren unter dem Schutz des Staates Tausende zivile Unterstützer der kurdischen Befreiungsbewegung ermordet hatte. Nach ihrer vorübergehenden Zerschlagung im Jahr 2000 hatte sich die Hisbollah zuerst mit Wohltätigkeitsvereinen in den Elendsvierteln der kurdischen Städte reorganisiert, ehe Ende 2012 ein früherer Anwalt der Bewegung die Hüda Par gründete. Ebenso wie die BDP tritt Hüda Par für Autonomierechte und kurdischsprachigen Schulunterricht ein, verbindet dies allerdings mit dem Ruf nach der Scharia. Damit könnte die Partei sowohl in das Wählerlager der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP als auch der BDP einbrechen. »Die Menschen haben nur für die BDP gestimmt, weil es keine Alternative gab«, meint der Hüda-Par-Kandidat für Diyarbakir-Baglar Vedat Turgut. Viele konservative Kurden hatten bei den letzten Wahlen zwar aus nationalistischen Erwägungen BDP gewählt, doch sich nicht mit deren linken Programm identifiziert. Während die Hüda Par keine einzige Frau auf ihren Kandidatenlisten führt, sind über die Hälfte der Bürgermeister- und Stadtratskandidaten der BDP weiblich.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. März 2014

Demonstrant in Türkei gestorben

Von Nick Brauns

Istanbul. Ein Schüler, der während der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Juni von einer Gasgranate der Polizei getroffen wurde, ist am Dienstag morgen in einem Istanbuler Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzung verstorben. Der 15jährige Berkin Elvan lag zuvor 269 Tage im Koma. Er ist das achte Todesopfer der Polizeigewalt während der landesweiten Proteste gegen die autoritäre Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. »Nicht Gott, sondern Erdogan hat mir meinen Sohn genommen«, erklärte Elvans Mutter. Auf die Nachricht vom Tod des Jungen versammelten sich Demonstranten in mehreren Städten zum stillen Gedenken. Vor dem Krankenhaus in Istanbul-Okmeydani, wo der Schüler verstorben war, griff die Polizei die Trauernden mit Reizgas an. Auch in Ankara attackierten Polizisten einen Demonstrationszug von Studenten.

(junge Welt, Mittwoch, 12. März 2014)




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