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Erdogan und der »Parallelstaat«

Der türkische Ministerpräsident muss im Wahljahr 2014 mit vielen Problemen kämpfen

Von Jan Keetmann *

Auf den ersten Blick scheint der türkische Regierungschef Erdogan den Machtkampf mit den Anhängern des pensionierten Predigers Fethullah Gülen zu gewinnen. Doch geht er angeschlagen ins Wahljahr.

In Bursa, im Westen der Türkei, hat man dieser Tage über 160 Polizisten versetzt oder entlassen, wie die Nachrichtenagentur Dogan berichtete. Unmittelbar zuvor wurden in mehreren anderen Städten Maßnahmen gegen etwa 600 Polizisten und fast 100 Richter und Staatsanwälte ergriffen. Nachdem Istanbuler Staatsanwälte – deren Verbindung mit der Gülen-Bewegung lange Zeit ein offenes, von der Regierung aber geleugnetes Geheimnis war – Mitte Dezember schwere Korruptionsvorwürfe öffentlich gemacht haben, hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan massiv reagiert. Er ließ drei Minister, deren Söhne festgenommen worden waren, zurücktreten und bildete sein Kabinett um. So nahm er weitere Minister aus der Schusslinie und formierte ein »Kriegskabinett«.

In der Folge wurden rund 1000 Polizeibeamte und 20 Staatsanwälte in die Provinz versetzt, es gibt diverse Ermittlungsverfahren, auch gegen Richter. Gesetze, die den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte betreffen, wurden »aktualisiert«, wie Erdogan sich ausdrückt: Das Justizministerium nimmt nun mehr Einfluss auf das wichtigste Gremium der im Prinzip doch unabhängigen Justiz. Mit diesen Maßnahmen wurde die Gefahr erheblich verringert, dass etwa auch Erdogans Sohn Bilal festgenommen wird und unter Korruptionsverdacht in Untersuchungshaft kommt.

Zwar gibt die Gülen-Bewegung keine Ruhe – so sind Audioaufnahmen an die Öffentlichkeit gelangt, die einen größeren Grundstückskandal in Istanbul belegen sollen. Lastwagen wurden kontrolliert, mit denen Mitarbeiter des nationalen Geheimdienstes MIT Waffen nach Syrien bringen, angeblich um Al-Qaida nahestehende Islamisten zu unterstützen. Doch alles in allem scheint es, als würde sich Erdogan im Staatsapparat allmählich durchsetzen.

Doch der Kampf gegen einen großen Teil von Justiz und Polizei eines Staates, in dem Erdogan bereits elf Jahre Ministerpräsident ist und den er erheblich umgewandelt hat, ist nicht leicht zu vermitteln. Schließlich kann man Richter, Staatsanwälte und Sicherheitskräfte nicht einfach zu »Marodeuren« erklären, wie Erdogan es letzten Sommer mit Demonstranten am Istanbuler Gezi-Park getan hat. Der Regierungschef prägte deshalb den Begriff »Parallelstaat«. Dieser habe seine »eigenen« Richter, Staatsanwälte und Polizisten und werde von Gülen von dessen Wohnsitz in Pennsylvania aus gelenkt. Vielleicht ist das sogar nahe an der Wirklichkeit, nur bleibt dann die Frage: Wie konnte Erdogan dies all die Jahre nicht bemerken?

Den »Parallelstaat« muss der Ministerpräsident Erdogan jetzt nicht nur zu Hause, sondern auch im Ausland erklären, etwa bei seinem jüngsten Besuch in Brüssel. Ahmet Hakan hat in seiner Kolumne in der Zeitung »Hürriyet« genüsslich ein fiktives Gespräch Erdogans mit dem Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, veröffentlicht – aus bekannten Aussagen des Ministerpräsidenten. Auf Barrosos Frage, was denn der »Parallelstaat« gemacht habe, antwortet er mit der Gegenfrage: »Was hat er nicht gemacht?« Und dann zählt Erdogan auf: Sie hätten gesagt, dass eine nationalistische Untergrundorganisation namens Ergenekon seine Regierung stürzen wollte und die »Putschisten« ins Gefängnis gesteckt, sie hätten einen großen Fußballverein angeschwärzt, tausende kurdische Politiker ins Gefängnis gebracht, das Privatleben des Oppositionsführers mit einer Kamera ausgespäht, Bücher juristisch wie Bomben behandelt, den Generalstabschef als angeblichen Führer einer Terrororganisation inhaftiert. Das alles ist Erdogan in den Tagen nach dem 17. Dezember 2013 aufgefallen.

Viele der Verurteilten, die nun auf eine Revision warten, halten den Mund, um ihr neues Verfahren nicht zu gefährden. Nur der wegen angeblichen Spielbetrugs zu sechs Jahren Gefängnis und einer sehr hohen Geldstrafe verurteilte Chef des Fußballklubs »Fenerbahce«, Aziz Yildirim, fragte nach, ob der Richter, der sein Urteil bestätigt hat, nun zum Staat oder zum »Parallelstaat« gehöre.

Derweil leidet die Wirtschaft unter der politischen Unsicherheit. Der Kurs der Türkischen Lira fiel am Freitag auf einen neuen Tiefstand gegenüber Dollar und Euro. Die Kapitalströme meiden die Türkei wegen der politischen Unsicherheit, aber auch, weil die Zentralbank noch immer die von Erdogan im Sommer als Feind ausgerufene »Zinslobby« bekämpft.

Der Regierungschef verstrickt sich immer mehr in seinen Erklärungen und das zwei Monate vor den Kommunalwahlen, der Präsidentschaftswahl im Sommer und der Parlamentswahl 2015. Nicht wenige Türken fragen sich mittlerweile, ob es sich Erdogan bei so vielen Korruptionsverfahren überhaupt leisten kann, eine Wahl zu verlieren. Wird er im Fall der Fälle wie einst die Generäle agieren, die demokratische Prozesse in der Türkei, die gegen sie liefen, mit allen Mitteln gestoppt haben? Am Freitag musste Erdogan nach Einwänden der EU und von Staatspräsident Abdullah Gül erst einmal seine umstrittene Justizreform teilweise auf Eis legen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 27. Januar 2014


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