Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogans Menetekel

Die aktuelle Krise der türkischen Regierung und die politischen Überlebenschancen des Ministerpräsidenten

Von Murat Çakır *

Auf dem Höhepunkt seiner Macht sind es keine geringeren als seine Nächsten, die Recep Tayyip Erdoğan den Dolch in den Rücken stoßen. Ein Korruptionsskandal, der sich zu einer Staatskrise entwickelt hat, offenbart das Ende des vom Westen präferierten »türkischen Modells«. Auch den letzten Optimisten im Westen dürfte es seit den jüngsten Ereignissen in Ägypten klar sein, dass der politische Islam nur bedingt mit der bürgerlichen Demokratie kompatibel ist und in der »Region der Instabilitäten« (G. Schröder) kein Stabilitätsanker mehr sein kann. Nach elf Jahren AKP-Regierung ist nun der endgültige Beweis dafür erbracht.

Die aktuelle Entwicklung in der Türkei ist für Außenstehende kaum zu durchschauen – selbst Insider mutmaßen über die Hintergründe. Fest steht aber, dass die Ehe der neoliberalen Islamisten schwer zerrüttet ist und auseinanderzubrechen droht. Das hat sowohl innen- als auch außenpolitische Gründe und deutete sich seit 2011 an. Korruption und Selbstbereicherung von Politikern hat in der Türkei eine lange Tradition. In der AKP-Ära jedoch nahm das ungeheure Maße an. Erdoğan zentralisierte kommunale Aufgaben in Ankara und konnte so den Bausektor unter seine Kontrolle bringen. Wenn man bedenkt, dass zwischen 2002 und 2012 die Bauwirtschaft durchschnittlich rund 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte und einer der Stützpfeiler des türkischen Wirtschaftswachstums sowie des Akkumulationsregimes war, wird die Macht des türkischen Ministerpräsidenten deutlich.

Doch Erdoğan kann nur Bürgermeister und will die absolute Macht. Er verwechselt die parlamentarische Demokratie mit der Diktatur der Mehrheit. Willkürjustiz, Feindstrafrecht, Aufhebung der Gewaltenteilung, Islamisierung des Alltags und Bevormundung der Gesellschaft prägen seine Regierungszeit. Der »Juni- Aufstand« 2013 offenbarte den gesellschaftlichen Unmut und beschädigte Erdoğans Gewinner-Image nachhaltig. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Schwerwiegender sind die Folgen der auf Regionalimperialismus ausgerichteten Außenpolitik. Trotz Unterstützung des Westens konnte Erdoğan nicht verhindern, dass sämtliche außenpolitische Ziele verfehlt wurden. Obwohl die Türkei islamistische Terrorbanden in Syrien unterstützt und das Völkerrecht verletzt, konnte sie weder die kurdische Autonomie verhindern noch das Assad-Regime verdrängen. Mehr noch: Durch die Annäherung der USA und Iran steht die »schiitische Achse« stärker da denn je.

Erdoğan hat das Vertrauen der arabischen Welt verloren. US-Zeitungen hinterfragen schon die »berühmte geopolitische Rolle der Türkei «. Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme und die Verteuerung des US-Dollars. In den letzten Monaten hat die türkische Lira mehr als zehn Prozent an Wert verloren.

Erdoğan wettert gegen Kapitalfraktionen, die ihm die Unterstützung versagen. Für die USA ist Erdoğan kein verlässlicher Partner mehr. Er kann sich jedoch weiterhin auf eine große Wählerschaft stützen. Die Angriffe aus den eigenen Reihen zielen offensichtlich auf die Domestizierung der AKP. Die Angreifer aus der Gülen-Bewegung sind aber auch kein Hort der Demokratie. Sie haben den Justiz- und Polizeiapparat unter ihrer Kontrolle. Ihnen geht es um den Ausbau der Macht und um die Verdrängung von Erdoğan.

Noch steht nicht fest, wie dieser Machtkampf enden wird. Die Kommunalwahlen im März werden die Richtung vorgeben. Im August soll dann der Staatspräsident gewählt werden. Ob es dazu kommt, ist offen. Möglich ist, dass Erdoğan durch vorgezogene Parlamentswahlen einen Befreiungsschlag versucht. Denkbar ist aber auch, dass er von seinem Amtssitz in Handschellen abgeführt wird – angesichts des Ausmaßes der Korruption wäre das keine Überraschung.

Allein eine breite Demokratisierung und die friedliche Lösung des kurdischen Problems könnten Erdoğan retten. Doch dazu ist er weder politisch noch intellektuell in der Lage. »Mene mene tekel u-parsin« würde der Weise Daniel sagen.

* Murat Çakır leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.

Aus: neues deutschland, Samstag, 4. Januar 2014 (Gastkommentar)



Zurück zur Türkei-Seite

Zur Türkei-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage