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Angriff auf Sozialisten

Anschlag auf Solidaritätsbrigaden für Kobani. Dutzende Tote und Verletzte. "Islamischer Staat" hinter Attacke vermutet

Von Nick Brauns, Izmir *

Bei einem Bombenattentat in der Stadt Suruç im Südosten der Türkei wurden am Montag Dutzende Menschen getötet oder verwundet. Die meisten Opfer waren junge Sozialisten, die an diesem Tag die zehn Kilometer entfernte Grenze überqueren und in die syrisch-kurdische Stadt Kobani gehen wollten.

Der Gouverneur der südostanatolischen Provinz Şanlıurfa, Izzettin Küçük, sprach von einem Selbstmordanschlag und gab die Zahl der Toten mit 28 an. Die kurdische Nachrichtenagentur Firat meldete sogar bis zu 50 Todesopfer. »Wir können keine genaue Zahl der Opfer benennen, da viele Körper in Stücke gerissen wurden«, erklärte die Abgeordnete der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), Dilek Öcalan. Über 100 Verletzte wurden in Krankenhäusern gebracht.

Der Anschlag ereignete sich im Garten des Amara-Kulturzentrums der HDP-Stadtverwaltung. Hier hatten sich rund 300 Mitglieder der Föderation der Sozialistischen Jugendverbände (SGDF) aus Istanbul, Ankara, Izmir und Diyarbakır für eine Pressekonferenz versammelt. Anschließend wollten die Sozialisten im Rahmen der Kampagne »Wir haben Kobani gemeinsam verteidigt – wir werden es gemeinsam wieder aufbauen« als Solidaritätsbrigaden für fünf Tage in der während monatelanger Kämpfe gegen die Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) zu 80 Prozent zerstörten Stadt helfen.

Bis Redaktionsschluß bekannte sich niemand zu dem Anschlag. Doch es wird von der Täterschaft des IS ausgegangen. Die Tageszeitung Hürriyet Daily News berichtete über Spekulationen, wonach sich eine 18jährige IS-Anhängerin unter die Jugendlichen gemischt habe.

Zeitgleich mit der Attacke in Suruç versuchten IS-Kämpfer, ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug an einem Kontrollpunkt in der Nähe einer Schule in Kobani zur Explosion zu bringen. Die Angreifer konnten von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) aufgehalten werden. Zwei YPG-Mitglieder kamen ums Leben.

Der Anschlag in Suruç ereignete sich zum dritten Jahrestag der von vielen Kurden als »Rojava-Revolution« gefeierten Bildung von drei Selbstverwaltungskantonen im Nordosten Syriens. Die Regierung der Türkei hatte in den vergangenen Tagen mehrfach ihre Sorge über die Etablierung eines kurdischen Staates an der Grenze des Landes zum Ausdruck gebracht – ein Plan, der aber von den syrischen Kurden nicht verfolgt wird. Außerdem bezeichnete Ankara die YPG als die gefährlichere »Terrororganisation« im Vergleich zum IS.

Innenminister Sebahattin Öztürk versprach, die Verantwortlichen für den Anschlag in Suruç zu finden. Doch bislang hatte die in Ankara regierende AK-Partei dem IS bei seinen grenzüberschreitenden Operationen gegen die kurdischen Selbstverwaltungskantone und syrische Regierungskräfte grünes Licht gegeben. Der türkische Geheimdienst versorgte zudem die Dschihadisten mit Waffen und Munition.

Im Falle des Anschlages von Suruç stellt sich die Frage, wieviel die Behörden im Vorfeld gewusst haben. So wurde kürzlich bekannt, dass Sicherheitskräfte einen türkischen IS-Anhänger, der Anfang Juni zwei Bomben auf einer HDP-Wahlkampfkundgebung in Diyarbakır legte, beobachtet hatten, ohne jedoch den Anschlag zu verhindern.

»Die blutige Saat der Unterstützung islamistischer Terrorbanden durch das AKP-Regime geht mit dem Anschlag von Suruç auf«, erklärte Sevim Dağdelen, Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag. Die deutsche Regierung müsse die Bundeswehr sofort aus der Türkei abziehen, um den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht weiter in seinem Krieg gegen Kurden und Linke zu unterstützen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 21. Juli 2015


Tränengas in Istanbul, Festnahmen in Berlin

Polizei geht nach Anschlag auf Kobane-Solidarität gegen Trauerkundgebungen vor / Zahl der Opfer des Attentats von Suruc auf 31 gestiegen **

Update 7.30 Uhr: MV für Kobane entgeht Anschlag knapp
Trauer und Wut äußerte auch die Initiative »Mecklenburg-Vorpommern für Kobane«, die schon länger Geld und Hilfsgüter für die Menschen in der vom IS befreiten und zum Symbol für linkes, emanzipatorisches Zusammenleben gewordenen Stadt gewordenen Stadt zu sammeln. »Mitglieder unserer Initiative, die sich seit heute in Suruc aufhalten, sind nur mit Glück diesem Terror entgangen«, hieß es am Montag seitens der Initiative. Man gedenke den Opfern des Anschlages und bekräftige die Solidarität mit den vielen internationalen, türkischen und kurdischen Helfern, »denen dieser perfide Anschlag galt«. Die Mitglieder des Hilfskomitees aus Rostock hätten »Schreckliches erleben« müssen. Die Initiative rief für den Dienstagabend nach Rostock um 18 Uhr zu einer Trauerkundgebung auf.

Tränengas in Istanbul, Festnahmen in Berlin

Berlin. Nach dem verheerenden Anschlag auf ein linkes Kulturzentrum in Suruc sind am Montagabend in Istanbul mehrere Tausend Menschen in Wut und Trauer auf die Straße gegangen. Die Polizei setzte Tränengas ein und löste die Demonstration auf. Auch in vielen anderen Städten fanden Kundgebungen statt.

In Berlin kritisierte die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen die Regierung in der Türkei. »In Suruc ging die Saat des AKP Regimes auf, das jahrelang in den IS investiert hat.« Die Terrormmiliz wolle »unsere Hilfsbrigaden für Kobane einschüchtern. Aber wir werden sie noch verstärken«, hieß es bei der Kundgebung. Nach der Kundgebung wurden sechs Demonstranten kurzzeitig festgenommen worden. Nach Angaben der Polizei vom Dienstag wird ihnen Landfriedensbruch, Körperverletzung und versuchte Gefangenenbefreiung vorgeworfen. Die Demonstranten wiesen diese Vorwürfe als unbegründet zurück. Wegen der Festnahmen hatte es aus Protest Sitzblockaden gegeben. Zuvor hatten nach Zahlen der Polizei etwa 1.100 Menschen ihrer Wut und Trauer über den Anschlag in Suruc Ausdruck verliehen.

Nach dem Anschlag ist die Zahl der Todesopfer derweil auf mindestens 31 gestiegen. Es könne sich aber ur um eine vorläufige Bilanz handeln, sagte ein Regierungsvertreter, der nicht namentlich genannt werden wollte, am Montag der Nachrichtenagentur AFP. Der örtliche Gouverneur Abdullah Ciftici teilte am Montagabend mit, dass etwa 20 der rund hundert Verletzten in Lebensgefahr schwebten. Laut türkischen Medien wurde der Anschlag von einer um die 20 Jahre alten Selbstmordattentäterin begangen.

Viele Tote bei Anschlag auf Kobane-Solidarität in Suruc

Mindestens 30 Opfer, viele davon frewillige Helfer aus linken Jugendverbänden / Polizei geht gegen Trauer-Demo in Istanbul vor / Attentäter zielen auf Amara-Kulturzentrum: ein Ort, der für Solidarität steht

Rund 300 vor allem jugendliche Vertreter und Studenten aus linken Organisationen und der sozialistischen SGDF hatten sich im Amara-Kulturzentrum von Suruc versammelt, um dort ihre Hilfsaktion für den Wiederaufbau der syrischen Grenzstadt Kobane vorzubereiten. Das linke Kulturzentrum ist ein Ort, der vor allem für Solidarität steht. Das Zentrum wird von der kurdischen Stadtverwaltung betrieben und steht der linken Partei HDP nahe. Im Garten trinken die Anwohner Tee. Im vergangenen September war das Zentrum ein Anker für tausende Flüchtlinge, die in nur wenigen Tagen vor Kämpfen im nahe gelegenen syrischen Kobane nach Suruc flohen. Sie erhielten im Garten erste Versorgung, Essen und Unterkunft.

Die von dem Anschlag betroffenen Aktivisten hatten zuvor in ihren Stadtvierteln Geld gesammelt, um in den nächsten Wochen in Kobanê einen Freizeitpark für Kinder zu bauen, berichtet Martin Glasenapp von der Organisation medico. »Nachdem sie sich an großen Tischen mit Angehörigen von getöteten YPG-/YPJ-KämpferInnen aus Kobanê getroffen hatten, stellten sie sich zu einem Erinnerungsbild auf. Der Garten war voll mit Menschen. In diesem Moment zündete ein Selbstmordattentäter die fürchterliche Bombe.«

** Aus: neues deutschland (online), Dienstag, 21. Juli 2015


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