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Kurden erzielen Teilerfolg im Kampf gegen die türkische Wahlkommission

Nach massiven Protesten und Aufständen wurden sechs Kandidaten zur Wahl zugelassen


Im Folgenden dokumentieren wir eine Erklärung der kurdischen Organisation ISKU.

Aufstände erfolgreich

Wahlkommission nimmt Entscheidung teilweise zurück

Nach der Entscheidung der hohen Wahlkommission vom 18.04.2011, 12 Kandidat_innen des linken Wahlbündnisses und hierbei insbesondere auch 7 kurdische Kandidat_innen aufgrund von Verfahren nach dem Antiterrorgesetz nicht zur Parlamentswahl zuzulassen, kam es zu einer Phase von Aufständen im gesamten nordkurdischen Gebiet aber auch im Westen der Türkei. Die protestierenden Menschen wurden mit massiver Gewalt von Polizei und Militär angegriffen. Bei den Angriffen wurde ein Gymnasiast in Bismil durch Polizeischüsse getötet, Hunderte wurden verletzt. Der Widerstand weitete sich dennoch aus, unter dem Druck der immer heftigeren Proteste war das Gericht gezwungen nach Überprüfung, ihre Entscheidung für 6 der Kandidat_innen der linken, prokurdischen Friedens- und Demokratiepartei BDP zurückzunehmen und diese wieder zur Wahl zuzulassen. Ein großer Erfolg für die kurdische Freiheitsbewegung.

Mit dem 21.04. geht nun ein Tag heftigster Auseinandersetzung, von Polizeiangriffen, Militäreinsätzen und Großdemonstration mit Freudenfeiern mit Feuerwerk über den Erfolg zu Ende. Die Freude wird aber durch die vielen Verletzten, von denen mehrere in Lebensgefahr schweben, mindestens einen bei den Protesten getöteten Jugendlichen, Folter, Rechtsbrüche und erneute militärische Operationen gegen die kurdische Guerilla, denen heute 3 Kämpfer_innen in Maraş zum Opfer fielen, getrübt. Auffällig ist wieder, dass die Polizei ihre Gasgranaten gezielt auf Kopfhöhe abschießt und so Personen lebensgefährlich verletzt. Dennoch hat die kurdische Bewegung zusammen mit vielen linken türkischen Aktivist_innen gezeigt, zu welcher Qualität von Widerstand sie in der Lage sind. Die Menschen widerstanden den Angriffen von Polizei und Militär mit neuen Widerstandstechniken. Es kam heute am 21.04. erneut in Amed (Diyarbakır), Gever (Yüksekova), Bismil, Kelê(Malazgirt), Qoser(Kızıltepe), Colemêrg (Hakkari), Silopi, Wan (Van), Giyadîn(Diyadin), Dörtyol, Adana, Mersin, Dêrsim (Tunceli), Wêranşar(Viranşehir), Îdir (Iğdır) und an vielen anderen Orten zu Aufständen, Demonstrationen und heftigen Kämpfen.

Hier eine Zusammenfassung der Ereignisse des Tages:

AMED (DİYARBAKIR)/BISMIL – 50.000 AUF BEERDIGUNG VON GESTERN GETÖTETEN JUGENDLICHEM – STRASSENKÄMPFE UND MILITANTE AKTIONEN – 157 FESTNAHMEN

In Bismil in der Region Amed (Diyarbakır) wurde der gestern von Polizisten ein Jugendlicher mit zwei Kugeln tödlich verletzte und anschließend am Boden liegend von Polizisten mit Tritten ins Gesicht misshandelte 19-jährige Gymnasiast Ibrahim Oruç wurde von etwa 50.000 Menschen, unter ihnen auch die beiden Co-Vorsitzenden der BDP Selahattin Demirtaş und Gültan Kışanak, beigesetzt. Die anschließende Demonstration wurde erneut von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen worden. Die Straßenkämpfe dauerten bis in die Nacht zum 22.04. an.

In der Nacht zum 21.04. wurde von der aufgebrachten Bevölkerung das Gebäude der Regierungspartei AKP in der Kreisstadt Bismil zerstört worden. In Amed (Diyarbakır) wurde eine Airbase des türkischen Militärs über deren Eingang „Glücklich ist, wer sich Türke nennen kann“ steht angegriffen. Im Laufe des Tages wurden auch etliche Banken mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen. Die Kämpfe weiteten sich auf verschiedene Stadtviertel aus und dauerten bis zum Abend an.

Am Abend nach der Bekanntgabe der Rücknahme der Entscheidung der hohen Wahlkommission wurde hier mit Feuerwerk der Sieg gefeiert. Die Auseinandersetzungen in Amed (Diyarbakır) dauerten die letzten drei Tage nahezu pausenlos an. Mit der Ermordung des Gymnasiasten Ibrahim Oruç verwandelte sich die Stadt in ein regelrechtes Kriegsgebiet. Überall in der Stadt standen Barrikaden und der Verkehr auf vielen Hauptverkehrsstraßen wurde von Demonstrant_innen blockiert. Dutzende wurden verletzt. Ein 12-jähriges Kind wurde durch eine Gasgranate schwer verletzt. Bis jetzt wurden 157 Personen festgenommen, die sich im Moment noch auf der Polizeidirektion befinden.

ÊLIH (BATMAN) – ZEHNTAUSENDE AUF DER STRASSE – HEFTIGE AUSEINANDERSETZUNGEN – VORSCHLAGHÄMMER GEGEN PANZER – BDP-ABGEORDNETE VON POLIZEI VERPRÜGELT – POLIZEI GREIFT RATHAUS AN – SCHUSSWAFFENEINSATZ DURCH POLIZEI

Am 21. April protestierten in der kurdischen Großstadt Êlih (Batman) ebenfalls wieder Zehntausende gegen die Entscheidung der hohen Wahlkommission, aber auch gegen die Ermordung von Ibrahim Oruç. Aus Protest waren alle Läden geschlossen.

Die Polizei griff etwa 10.000 Demonstrant_innen mit Wasserwerfern und Panzern an. Die Kämpfe breiteten sich aufs Stadtgebiet aus und Spezialeinheiten wurden eingesetzt. Die Polizei setzte gegen die Demonstrant_innen neben Plastikpatronen auch scharfe Munition ein. Die Auseinandersetzungen breiteten sich auf die Stadt aus. Die Demonstrant_innen verteidigen sich mit Steinen und Molotowcocktails. Auffällig ist, dass unter anderem auch Polizeipanzer mit Vorschlaghämmern angegangen werden. Weiterhin wurden Banken mit Molotowcocktails angegriffen.

Die BDP-Abgeordnete Ayla Akat Ata wurde von der Polizei zusammengeschlagen, die Abgeordnete Bengi Yıldız mit einer Gasgranate beschossen. Durch den massiven Gaseinsatz ist es auch in den Häusern schwer zu atmen. Vor dem „Zelt für eine demokratische Lösung“ wurden Dutzende von der Polizei zusammengeschlagen und festgenommen. In das Rathaus von Êlih, das von der BDP regiert wird, schoss die Polizei andauernd Gasgranaten durch die Scheiben. Etwa 50 Personen befinden sich im Moment mit Verletzungen im Krankenhaus.

WAN (VAN) – POLIZEIANGRIFF AUF DEMONSTRATION – SCHWER VERLETZTE

Auch in Wan wurden Protestaktionen nun den dritten Tag in Folge von der Polizei angegriffen. Dabei wurde ein Jugendlicher durch einen Schuss mit einer Gasgranate an den Kopf schwer verletzt. In Folge der Polizeiangriffe kam es zu heftigen Straßenkämpfen.

QOSER (KIZILTEPE) – POLIZEIANGRIFF - STRASSENKÄMPFE

Auch in Qoser (Kızıltepe), in der Region Mêrdîn (Mardin), leistet die Bevölkerung trotz andauernder Polizeiangriffe weiter Widerstand. Erneut gingen Tausende auf die Straßen – nach Polizeiangriffen weitete sich auch hier der Aufstand aufs Stadtgebiet aus. U.a. wurde ein Polizeipanzer in Brand gesetzt. Viele Menschen, darunter auch der Bürgermeister der Kreisstadt Dêrika//(Derik) und die stellvertretende Bürgermeisterin von Qoser (Kızıltepe) wurden durch die exzessiv eingesetzten Tränengasgranaten verletzt. Dutzende Verletzte befinden sich im Krankenhaus.

CİZIR (CIZRE) – DEMONSTRATION – POLIZEIANGRIFFE - STRASSENKÄMPFE

Sowohl in der Kreisstadt Silopi in der Nähe von Cîzir (Cizire) kam es zu Auseinandersetzungen, als die Polizei eine Demonstration auflösen wollte. Auch in mehreren Stadtteilen von Cîzir (Cizire) kam es, nachdem auch hier Demonstrationszüge angegriffen worden waren, zu auseinandersetzungen.

GEVER (YÜKSEKOVA) – SCHULBOYKOTT – STRASSENKÄMPFE – POLIZEISCHÜSSE – WASSERWERFER AUSSER BETRIEB GESETZT – MILITÄRTRANSPORT BLOCKIERT

Auch die Stadt Gever kam seit drei Tagen nicht zur Ruhe, die Schule wird boykottiert und es finden Demonstrationen, Straßenkämpfe und militante Aktionen statt. Am 21.04. griff die Polizei erneut eine Kundgebung an. Spezialeinheiten wurden hinzugezogen, die u.a. neben Plastikpatronen auch scharfe Waffen benutzten. Ein Militärtransport von Şemzinan (Şemdinli) nach Gever (Yüksekova) musste umkehren, da ihr Weg blockiert wurde.

Weiterhin stürzte ein Wasserwerfer im Steinhagel in einen Graben, aus dem er sich selbst nicht mehr befreien konnte. Die Polizisten die hinzukamen eröffneten das Feuer auf Demonstrant_innen, die den zerstörten Wasserwerfer feierten.

ADANA – HEFTIGE KÄMPFE – WASSERWERFER UND PANZERFAHRZEUGE DURCH NAGELBRETTER BESCHÄDIGT – POLIZEI SETZT WOHNHAUS IN BRAND SOLDATEN ERÖFFNEN FEUER UND VERLETZEN DREI KINDER – ZIVILPOLIZISTEN BESCHIESSEN FRIEDENSZELT

In mehreren Stadtvierteln von Adana kam es zu militanten Aktion, Demonstrationen und Kämpfen. Dabei setzte die Polizei am „demokratischen Lösungszelt“ auch hier wieder Wasserwerfer, Tränengas und Panzer ein. Die Demonstrant_innen verteidigten sich mit Steinen und Molotowcocktails. Gezielt wurden die Reifen eines Wasserwerfers zerstört und so außer Betrieb gesetzt. Auch anderen Orten wurden Nagelbretter gegen Panzerfahrzeuge erfolgreich eingesetzt. Weiterhin zerstörten die Jugendlichen Überwachungskameras. Weiterhin konnten die Jugendlichen u.a. Gasgranatenwerfer und Polizeiausrüstung in größerem Umfang in die Hände bekommen. Die Polizei setzte unter anderem ein Wohnhaus durch Gasgranaten, welche durch die Fenster geschossen wurden, in Brand. Dutzende wurden auch hier verletzt.

Ein Militärposten in Adana eröffnet willkürlich das Feuer, da angeblich Steine geworfen worden seien. Dabei werden drei Kinder verletzt, eins von ihnen schwer.

Aufgrund dieses Ereignisses versammelten sich schnell Hunderte zu einer Spontankundgebung, die ebenfalls von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen wurde.

In der Nacht zum 21.04. bemerkten Jugendliche, die das Friedenszelt bewachten, ein Auto mit Zivilpolizisten, die das Zelt die ganze Zeit beobachteten. Die Jugendlichen stoppten das Auto und fragten nach dem Grund der Beobachtung. Die Polizisten sprangen heraus und eröffneten sofort das Feuer. Daraufhin verteidigten sich die Anwesenden mit Steinen und Knüppeln. Die Polizisten ergriffen die Flucht.

MERSIN – POLIZEI GRIFF FRIEDENSZELT AN – ANGRIFF AUF POLIZEISTATION – 40 TAGE ALTES BABY DURCH IN WOHNUNG GESCHOSSENE TRÄNENGASGRANATE SCHWER VERLETZT

Auch hier kam es nach Polizeiangriffen auf Demonstrationen zu heftigen Auseinandersetzungen. Als die Polizei das „Zelt für eine demokratische Lösung“ angriff, errichteten die Jugendlichen zum Schutz Barrikaden. Mindestens zehn Jugendliche wurden verletzt.

Im Stadtviertel Toroslar griffen Jugendliche eine Polizeiwache mit Molotowcocktails, Steinen und Feuerwerkskörpern an. Am 21.04. schossen Polizisten ebenfalls Tränengasgranaten in den 2. Stock eines Wohnhauses im Stadtteil Toroslar. Dabei wurde das 40 Tage alte Baby Ismail Akan schwer verletzt und überlebte nur knapp. Im Nebenraum befanden sich 11 Personen. Durch die Granate konnte man nach Aussagen der Anwesenden die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Die Menschen verließen in Panik die Wohnung während versucht wurde den kleinen Ismail im Badezimmer zu schützen. Seine Organe wurden durch die Gaseinwirkung beschädigt. Die Polizisten haben nach Augenzeugenangaben gezielt auf die Wohnung gezeigt und eine Granate hineingeschossen.

Quellen: YH, ANF, 21.04.2011, ISKU




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