Die Türkei nach Erdogans Wahlsieg:
Niederlage des Militärs - Europäische Union in Schwierigkeiten
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich kritisch mit dem überraschend klaren Wahlsieg für Erdogans konservative AKP befassen.
Erdogans Sieg und das Traumland der Opposition
Die Gegner des türkischen Regierungschefs leisteten ihm häufig unfreiwillige Wahlhilfe
Von Jan Keetman, Istanbul *
Recep Tayyip Erdogan legte die Grundlage zum Sieg seiner AKP, als er mitten im Wahlkampf
darauf verzichtete, den Streit mit dem Militär und die Behandlung seines Präsidentschaftskandidaten
Abdullah Gül zum Angelpunkt der Kampagne zu machen. Stattdessen konzentrierte er sich auf
seine wirtschaftlichen Erfolge.
In Gesprächen mit AKP-Wählern am Wahltag tauchten immer wieder die gleichen Stichwörter auf.
Stabilität gehörte dazu. Die Leute meinen, Erdogan und seine Mannschaft hätten das Land gut
geführt, und sie erinnern sich noch recht gut daran, dass die anderen das nicht vermocht hatten.
Nachdem sich Erdogan versöhnlich gezeigt hatte, waren als Streithähne, die die Stabilität
gefährden, nur die Oppositionspolitiker übrig geblieben. Insbesondere der selbst in den eigenen
Reihen umstrittene Oppositionsführer Deniz Baykal. Das Eingreifen der Militärs in die Politik war
ohnehin nur bei einer Minderheit populär gewesen, erwies sich also als unfreiwillige Wahlhilfe für die
AKP.
Nach Ansicht der Opposition lebt die Türkei derzeit – entgegen nahezu allen ökonomischen
Kennziffern – in einer Wirtschaftskrise. Die Außenpolitik, so Erdogans Kontrahenten weiter, sei trotz
der Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU reines Dilettantentum, wenn nicht Verrat. Natürlich
ist es das Recht jeder Opposition, Kritikwürdiges aufzugreifen, aber ein guter Teil der türkischen
Regierungsgegner hat sich völlig von der Wirklichkeit verabschiedet. Das Flaggschiff der
kemalistischen Opposition, die Zeitung »Cumhuriyet« (Die Republik), bezeichnete am Tag vor der
Wahl eine Umfrage, die die AKP bei 48 Prozent sah, als lächerliche Verschwörung. Stattdessen
präsentierte sie eine andere Erhebung, der zufolge die AKP auf 29 bis 33 Prozent rechnen durfte.
Tatsächlich bekam Erdogans Partei rund 47 Prozent. Und das ist nur eines von vielen Beispielen.
Sükran Soner, seit vielen Jahren für die »Cumhuriyet« tätig, beschreibt den Grundsatz dieser Art
von »Analyse«: »Hinter allem steht immer irgendetwas.« Und sei es eine Verschwörungstheorie.
Verschwörungstheorien – etwa bezüglich der Teilung der Türkei – kann man auch aus dem Munde
von Generalstabschef Yasar Büyükanit hören, und nicht nur von ihm. Wer aber hinter allen
Vorgängen Verschwörungen wähnt, die sich einzig am eigenen Weltbild ausrichten, der verliert den
Kontakt zur Wirklichkeit. Das ist derselbe Zustand, in dem sich die türkische islamistische Bewegung
unter dem einstigen Ministerpräsidenten (1996/97) Necmettin Erbakan befand, bis sie durch das
Verbot seiner islamischen Wohlfahrtspartei einen Zusammenbruch erlebte. Während Erbakan er
selbst blieb, spaltete sich die AKP von seiner Bewegung ab und wurde zu einer pragmatischen
Partei, die die ökonomischen Probleme und ihren politischen Spielraum meistens realistisch sieht.
Nicht nur die dezidiert türkische Opposition aus Deniz Baykals Republikanischer Volkspartei (CHP)
und Devlet Bahcelis Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hat trotz einiger Stimmengewinne
eine Niederlage erlitten. Zu den Verlierern gehört selbst die kurdisch ausgerichtete Partei für eine
Demokratische Gesellschaft (DTP). Durch die Aufstellung unabhängiger Kandidaten gelang es ihr
zwar, die 10-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu umgehen. Mit zwei Dutzend
Abgeordneten kann sie sogar eine eigene Fraktion bilden, was sie als Erfolg feiern darf. Dennoch ist
sie in den kurdischen Gebieten unter ihren Möglichkeiten geblieben. Dagegen hat die AKP ihre
größten Erfolge im kurdischen Südosten errungen. Das mag zum Teil ökonomische Gründe haben:
Die AKP kann etwas verteilen, die DTP sicher nicht. Doch ist dieses Ergebnis auch eine Antwort auf
die verschiedenen Ansätze zur Lösung der »kurdischen Frage«. Der von der MHP und wenig
gemäßigter von der CHP geschürte türkische Nationalismus kommt im Südosten nicht an. Dagegen
steht Erdogan für die Aufhebung des Ausnahmezustands und für demokratische Reformen, und er
hat dem Drängen auf einen Truppeneinmarsch in das Gebiet der kurdischen Nachbarn in Nordirak
widerstanden. Selbst in den Reihen der DTP-Anhänger fand er damit einige Anerkennung.
Bleibt die Frage, ob die Gefahr einer islamistischen Unterwanderung des Staates, die Gefahr einer
schleichenden Islamisierung real ist. Im April und im Mai hatte eben sie die Opposition und das
Militär noch auf die Barrikaden gebracht. Im Wahlkampf aber spielte das Verhältnis von Staat und
Religion praktisch keine Rolle. Ebenso wenig wie andere »heiße« Themen, etwa die EU und das
Zypernproblem. Es schien, als wären sich beide Lager darin einig gewesen, dass man mit diesen
Themen keine Mehrheiten erobern kann. Die Furcht vor einem radikalen Wandel war ohnehin
übertrieben.
Vom Tisch ist die Aussicht auf eine Gesellschaft, in der der Islam stärker als bisher zur Richtschnur
des öffentlichen Lebens wird, indessen nicht. Viele laizistische Türken werden also weiter unruhig
schlafen.
* Aus: Neues Deutschland, 24. Juli 2007
"Putschdrohung des Militärs blieb nicht ohne Wirkung"
Türkei: Wahlausgang ist Antwort der Bevölkerung auf die Interventionen der Generäle und Profillosigkeit der Opposition. Gespräch mit Sevim Dagdelen **
Sie waren als Wahlbeobachterin in der Türkei. Haben Sie mit einem so deutlichen Ausgang für Erdogans konservative AKP gerechnet?
Daß die AKP als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen und ihre Regierungsmehrheit behalten würde, war zu erwarten. Auch in einigen Prognosen wurden ihr deutliche Stimmzuwächse vorausgesagt. Von daher ist das Ergebnis nicht überraschend. Ich konnte beobachten, daß die AKP als Regierungspartei ihre Möglichkeiten voll ausschöpfte. Kurz vor dem Wahltermin wurden staatliche Finanzzuschüsse verteilt und eine kostenlose Gesundheitsversorgung eingeführt. Das sind Dinge, die den Wahlausgang stark beeinflußt haben.
Welche Rolle haben die Drohungen des Militärs gespielt?
Die dreimalige Putschdrohung des Militärs blieb natürlich nicht ohne Wirkung. Ebenso wie der mangelnde programmatische Wahlkampf der relevantesten Herausforderer, der rechtsextremen MHP und der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP. Der Wahlausgang ist die Antwort der Bevölkerung auf die Interventionen der Generäle und die Profillosigkeit der Opposition.
Die Chefin der deutschen Grünen, Claudia Roth, freut sich hingegen über den klaren Sieg der Vernunft und der Demokratie in der Türkei ...
Daß eine Regierung vom Volk gewählt und nicht vom Militär eingesetzt wird, ist zunächst ein Zeichen für Demokratie. Auf der anderen Seite stehen die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde, die tendenziösen Medien, für die unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten überhaupt nicht existierten, sowie einige wahltechnische Regelungen, die die Unabhängigen benachteiligt haben. Auch die Vorgeschichte dieser Parlamentswahlen darf nicht vergessen werden. Es war ein vorgezogener Urnengang wegen der im Mai gescheiterten Wahl des Staatspräsidenten, wegen der Putschdrohungen und Interventionsversuche des Militärs, wegen des Urteils des Verfassungsgerichts und der Massendemonstrationen. Die Vorgeschichte zeigt den Mangel an Demokratie in der Türkei sehr deutlich.
Wofür steht die AKP aus Ihrer Sicht, und warum ist sie massenhaft gewählt worden?
Sie steht für eine Wirtschaftspolitik, die der Durchsetzung der IWF- und Weltbankdiktate gleichkommt. Die Regierenden versuchen, das Land als NATO-Partner und EU-Beitrittskandidat im Kielwasser der Westmächte zu halten. Innenpolitisch verfolgen sie deshalb eine Linie, die der Verwirklichung dieser Ziele dient. Es werden sogenannte Demokratisierungsmaßnahmen im Rahmen des Beitrittsprozesses ergriffen.
Hätten die Wahlen vor vier Monaten stattgefunden, wäre die AKP nach damaligen Umfragen nicht über 30 Prozent gekommen. In der relativ kurzen Wahlkampfphase und durch die gescheiterte Wahl eines neuen Staatspräsidenten wurde eine nie dagewesene Polarisierung in der Gesellschaft erreicht. Auf der einen Seite hat man eine Gefahr für den Laizismus heraufbeschworen. Danach ist die Türkei auf dem Weg zu einem islamischen Gottesstaat. Auf der anderen Seite wurde das Land von einer Welle des Nationalismus überzogen. Die AKP hat es gut verstanden, sich als Opfer darzustellen und ihrer neoliberalen Politik einen pseudosozialen Anstrich zu geben. Beispielhaft sei hier nur genannt, daß die Partei in nur vier Jahren eine Staatsverschuldung von rund 200 Milliarden US-Dollar und die größten Privatisierungen zu verantworten hat. Das ist der Grund, warum die Finanzmärkte positiv reagieren und die Aktienkurse gestiegen sind.
Wie werten Sie den Wahlausgang für die Linken?
Das von den demokratischen Parteien DTP, EMEP, SDP und ÖDP unterstützte Bündnis der »Kandidaten der tausend Hoffnungen« hatte sich den Einzug von rund 30 Unabhängigen in das Parlament zum Ziel gesetzt. Auch wenn man dies mit 24 gewählten Parlamentarierinnen und Parlamentariern nicht ganz erreicht hat, ist es für sie ein großer Erfolg. Nach Jahren ist wieder eine wirkliche Opposition im Parlament vertreten. Eine Opposition, die hauptsächlich in den kurdischen Provinzen gewählt wurde. Ob diese Parlamentarier die erklärten Ziele wie den Einsatz für Demokratie, Frieden, soziale Gerechtigkeit konsequent verfolgen werden, werde ich mit großem Interesse verfolgen. Leicht werden sie es dabei nicht haben.
Interview: Wera Richter
** Sevim Dagdelen ist Bundestagsabgeordnete für Die Linke und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe
Aus: junge Welt, 26. Juli 2007
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