Erdogans Tränen rühren seine Gegner kaum
Am 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980 wird in der Türkei über Verfassungsänderungen abgestimmt
Von Jan Keetman, Istanbul *
Die Türkei nähert sich dem 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980.
Am gleichen Tag, dem 12. September, soll über eine Verfassungsänderung
abgestimmt werden. Um dieses Datum rankt sich auch der Wahlkampf.
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan möchte den Jahrestag des
Militärputsches und das Referendum über die Verfassungsänderung bewusst
miteinander verbinden, schließlich gehe es um eine Änderung des von
Putschgeneral Kenan Evren in Auftrag gegebenen Grundgesetzes. In einer
von zahlreichen Fernsehkanälen übertragenen Rede vor seiner Fraktion las
Erdogan Dokumente vor, die drei von den Putschisten hingerichtete
Jugendliche betreffen. Dem Ministerpräsidenten brach die Stimme, Tränen
traten ihm in die Augen. Tatsächlich berichtete er von ergreifenden
Geschichten: Die Eltern Mustafa Pehlivanoglus beispielsweise hatten
ihren Sohn im Gefängnis besuchen wollen, erfuhren dort aber nur, dass er
drei Tage zuvor hingerichtet worden war.
Der 12. September 1980 war wahrlich ein schwarzer Tag in der Geschichte
der Türkei. Hunderttausende wurden inhaftiert und gequält, viele starben
unter der Folter oder wurden hingerichtet. Doch die Türkei blieb
NATO-Mitglied, die Bundesrepublik verdreifachte sogar ihre Militärhilfe.
Bleibt die Frage, inwiefern das Referendum etwas mit der Bewältigung der
Putschfolgen zu tun hat. Nicht zum ersten Mal wird die
»Putschverfassung« verändert, und es handelt sich auch nicht um die
umfassendste Novellierung. Zwar fällt ein Artikel, mit dem sich die
Militärs selbst Straffreiheit garantierten, doch wegen Verjährung sind
die damaligen Drahtzieher und ihre Helfershelfer ohnehin wohl nicht mehr
zu belangen. Die Opposition hatte angeboten, die Verjährungsfristen
ebenfalls zu ändern, doch das lehnte die Regierung ab.
Die Opposition wirft der Regierung deshalb Unaufrichtigkeit vor. Die
Vorsitzende der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP),
Gültan Kisanak sprach gar von »Krokodilstränen«. Erdogan mache Politik
mit dem Leid anderer. Kisanak saß nach dem Putsch zwei Jahre im Gefängnis.
Doch der Symbolkraft des Datums kann sich niemand entziehen. So ziehen
denn Befürworter wie Gegner der Verfassungsänderung mit Erinnerungen an
den Putsch in die Schlacht um das Referendum. Erdogan sieht ein Ja als
eine »Abrechnung« mit den Putschisten. Oppositionsführer Kemal
Kilicdaroglu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) brandmarkt die
Änderung als eine »Fortführung« der Verfassung des Putschgenerals Kenan
Evren. Die BDP wirbt mit der Parole »Wir wollen weder die Verfassung von
Kenan Evren noch die von Tayyip Erdogan« für einen Boykott.
Die Kontrahenten bemühen auch deshalb die Geschichte, weil es ihnen an
anderer Munition für den Abstimmungskampf mangelt. Viele der
vorgesehenen Änderungen sind technischer Natur und eignen sich schlecht
zur Mobilisierung der Wähler. Sicher ist, dass der Einfluss der
Regierung auf die Justiz zunehmen wird, wenn die Novelle durchgeht. Doch
nachdem das Verfassungsgericht das Paket mit kleinen Änderungen
durchgewinkt hat, ist es schwer, einen eklatanten Verstoß gegen die
Gewaltenteilung zu behaupten. Auch der Regierung fällt es schwer zu
erklären, warum sie genau diese Änderungen will. Da kommt der
Symbolgehalt des 12. September gerade recht.
Enttäuscht sind vor allem die Kurden: Weder fällt die undemokratische
10-Prozenthürde für Parlamentswahlen noch wird der Begriff »Türke« - wie
sie fordern - durch »türkischer Staatsbürger« ersetzt. Überhaupt ist von
der »demokratischen Initiative« der Regierung, durch die Türken und
Kurden miteinander versöhnt werden sollten, um der PKK den Boden zu
entziehen, so gut wie nichts geblieben. Stattdessen droht die
Verschärfung des militärischen Konflikts im Südosten. Die Meldungen über
Tote in Gefechten zwischen der Armee und der PKK-Guerilla häufen sich.
Bilder weinender Mütter, die sich an die mit Fahnen bedeckten Särge
klammern, dringen tief ins öffentliche Bewusstsein. Auf der anderen
Seite werden gefallene PKK-Kämpfer in kurdischen Dörfern und Städten als
Märtyrer betrauert.
Tayyip Erdogan will die Verluste der Armee nun durch die Aufstellung von
Spezialeinheiten senken. Statt Wehrpflichtiger, die nach kurzer
Ausbildung in die Berge geschickt werden, um gegen trainierte,
motivierte und erfahrene PKK-Kämpfer vorzugehen, sollen längerfristig
verpflichtete und gut bezahlte Spezialisten in den Südosten entsandt
werden. Beobachter schätzen jedoch, dass für den Schutz der Region an
den Grenzen zu Irak und Iran mindestens 20 000 Soldaten notwendig wären.
Der Plan dürfte also mit erheblichen Kosten verbunden sein. Und die
einheimische Bevölkerung fürchtet schon jetzt, dass sich aus der
Spezialarmee wieder Todesschwadronen entwickeln, die wie zu Beginn der
90er Jahre Furcht und Schrecken in den Kurdengebieten verbreiten. Den
Gedanken an eine politische Lösung des Konflikts scheint die Regierung
jedenfalls aufgegeben zu haben. Das Projekt liegt in Scherben.
* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2010
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