Ankara befürchtet "kurdischen Frühling"
Vorgänge in Syrien könnten Sogwirkung auf die Türkei entfalten
Von Jan Keetman, Istanbul *
Dieser tage teilte der türkische Außenminister
Ahmet Davutoglu beim
abendlichen Fastenbrechen im Monat
Ramadan seine Vision über den künftigen
Zustand der Region mit. Vor allem
befürchtet Ankara eine »Libanonisierung
« Syriens.
Die jetzigen Grenzen seien falsch,
meinte Davutoglu. Sie hätten zwischen
Qamischli (Syrien) und Mosul
(Irak) »falsche Mauern« aufgerichtet.
In einem Nachsatz beschwichtigte
der Diplomat: Natürlich
achte er die bestehenden
Grenzen, aber wie in Europa solle
man sie nicht so wichtig nehmen.
Davutoglu wurde in seiner Vision
nicht allzu konkret. So blieb
unklar, warum er das hauptsächlich
von sunnitischen syrischen
Kurden bewohnte Qamischli und
das mehrheitlich von sunnitischen
Arabern bewohnte Mosul in Irak
als Beispiele auswählte. Doch ganz
offensichtlich ging es ihm um eine
Alternative zum neuen Albtraum
der Türkei, einer »Libanonisierung
« Syriens. Gemeint ist eine
Zersplitterung des Landes in verschiedene
Territorien.
Der Fall könnte schon eintreten,
wenn Syriens Präsident Baschar
al-Assad Aleppo nicht zurückgewinnen
kann, dafür aber
Damaskus hält. Schließlich könnten
sich auch die Alewiten, eventuell
zusammen mit einem Teil der
christlichen Minderheiten in Syrien,
aus Angst vor der sunnitischen
Mehrheit hinter den Orontes zurückziehen
und in diesem Gebiet
behaupten. Dann würden sicher
die Kurden versuchen, ein eigenes
Gebiet an der türkischen Grenze
unter ihre Kontrolle zu bringen. In
türkischen Medien ist bereits davon
die Rede, dass sich der »arabische
Frühling« in einen »kurdischen
Frühling« verwandele.
Ein Zerfall Syriens könnte auch
bei den türkischen Kurden den
Appetit auf eine Vereinigung mit
den de facto bereits beinahe unabhängigen
irakischen Kurden
und dann auch mit den syrischen
Kurden wecken.
Ohnehin kommen derzeit alarmierende
Meldungen aus dem Osten.
In der kleinen Gebirgsregion
um die Stadt Sendimli hat die PKK
eine Offensive gestartet und der
türkischen Armee über zwei Wochen
Gefechte geliefert. Am Sonntag
folgten ebenfalls schwere
Kämpfe im benachbarten Hakkâri.
Der PKK geht es mit solchen
Gefechten vor allem darum, Aufmerksamkeit
zu erregen, da sie
anders als die syrischen Rebellen
keine Chance hat, die viel stärkere
türkische Armee auf eigenem Territorium
zu besiegen. Wie frühere
türkische Regierungen versucht
andererseits Erdogan, das Problem
möglichst tief zu hängen, am
besten durch Schweigen. Beliebig
ignorieren lassen sich die Ereignisse
im Osten allerdings nicht.
Alle Alarmglocken lässt in Ankara
auch die Präsenz der Partei
der Einheit und Demokratie (PYD)
in Syrien läuten. Die PYD wurde
2003 von der PKK als Organisation
der syrischen Kurden gegründet.
Die von Salih Muslim geleitete
Partei ist weiterhin ein offensichtlicher
Ableger der PKK. In mehreren
syrisch-kurdischen Städten hat
die PYD Fahnen aufgehängt und
auch Poster des gefangenen PKKFührers
Abdullah Öcalan. Außerdem
konnte sie verschiedene
Kontrollpunkte errichten.
Neben der PYD gibt es noch ein
gutes Dutzend kurdischer Parteien,
die jetzt in Syrien auftreten. Die
tatsächliche Stärke der Anhängerschaft
der PYD unter den syrischen
Kurden ist Gegenstand von
Diskussionen. Der Führer der Demokratischen
Partei Kurdistans
Syrien, Abdul Hakim Baschar, behauptet,
die PYD könne in Syrien
nur deshalb Fahnen aufhängen,
weil sie mit den Sicherheitskräften
des Regimes zusammenarbeite.
Schwenkt also in Wirklichkeit
Assad die PKK-Fahne, um die ihm
nun feindliche Türkei zu erschrecken?
Da mag einiges dran wahr
sein, doch so sehr Abdul Hakim
Baschar den PKK-Ableger PYD
auch beschuldigt, die Zusammenarbeit
mit der PYD hat er nicht
eingestellt. Baschars Partei ist
selbst ein Ableger von Mesud Barsanis
Demokratischer Partei Kurdistans
Irak. Das Verhältnis Barsanis
zur Türkei ist ein eigenes
Kapitel und derzeit nicht einmal
schlecht. Trotzdem ist der Arm
Ankaras nicht stark genug, um
Barsani und PYD zu entzweien.
Doch nicht nur mit der PYD hat
die Türkei in Syrien Probleme.
Zweimal hat sich Davutoglu mit
Vertretern der kurdischen Opposition
in Syrien getroffen. Dabei
hat er das türkische Modell als Lösung
der Kurdenfrage auch für Syrien
empfohlen. Danach könnten
Kurden zwar Abgeordnete oder
Minister sein, aber nicht auf der
Grundlage einer kurdischen Identität.
Die kurdischen Parteien
lehnten das türkische Modell indessen
dankend ab.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 9. August 2012
Hintergrund: Westkurdistan
Von Nick Brauns **
Das als »Westkurdistan« bezeichnete Gebiet erstreckt sich von der Mittelmeerküste entlang der Grenze zur Türkei bis hinunter zur syrisch-irakischen Grenze und umfaßt die Enklaven Afrîn, Ain Al-Arab (Kobanî) sowie Dschazira in der Provinz Al-Hasaka. Seit den 1960er Jahren sahen sich die heute ca. vier Millionen syrischen Kurden einer Arabisierungspolitik durch die Zentralregierung ausgesetzt. Gleichzeitig gewährte Präsident Hafis Al-Assad ab 1980 der Arbeiterpartei Kurdistans PKK ein sicheres Rückzugsgebiet für ihren Kampf gegen die Türkei. Nach der auf NATO-Druck erzwungenen Vertreibung von PKK-Chef Abdullah Öcalan aus Syrien schlossen Ankara und Damaskus 1999 ein gegen die PKK gerichtetes Abkommen. Ein Aufstand im März 2004, bei dem über 30 Kurden von Sicherheitskräften getötet wurden, gilt als »kurdisches Erwachen«. Seit dem 20. Juli 2012 haben kurdische Volksräte die Kontrolle über eine Reihe von Städten übernommen, aus denen sich die staatlichen Sicherheitskräfte weitgehend zurückgezogen haben. Einflußreichste Kraft ist die Partei der Demokratischen Union (PYD), eine Schwesterpartei der PKK. Ihre Volksverteidigungskomitees verhindern ein Eindringen der vom Westen unterstützten Aufständischen der »Freien Syrischen Armee« und damit ein Übergreifen des Bürgerkrieges auf die kurdischen Landesteile. Ende Juli hat sich ein »Kurdischer Hoher Rat« als gemeinsame Vertretung der syrischen Kurden gebildet. Ihm gehören sowohl der PYD-geführte Volksrat von Westkurdistan als auch der dem Präsidenten der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Massoud Barzani, nahestehende Kurdische Nationalrat Syriens an.
Zur Situation in Westkurdistan erklärte der Hohe Kurdische Rat am 29. Juli: »Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in Syrien – die das Land in ein Chaos stürzen – und deren Auswirkungen auf die kurdischen Gebiete, sah sich die kurdische Bewegung gezwungen zu handeln, um die Bevölkerung der Region und das öffentliche Eigentum zu schützen. Diese Vorgehensweise hat zum Teil zu einer skeptischen Haltung auf nationaler und internationaler Ebene geführt. Wir wollen deshalb noch einmal betonen, daß wir uns als Teil der syrischen Bevölkerung und ihrer Revolution für ein freies und würdevolles Leben begreifen. Wir beabsichtigen mit unserer friedlichen und effektiven Teilnahme an dieser Revolution, ein demokratisches und pluralistisches Syrien zu entwickeln. Wir versichern, daß die Kurdinnen und Kurden keine Gefahr für Syrien und ihre Nachbarländer darstellen. Auch separatistische Bestrebungen oder der Aufbau von Hierarchien in der syrischen Gesellschaft ist nicht unser Ziel. Die Übernahme der Kontrolle in einigen kurdischen Gebieten war ein dringend notwendiger Schritt, um den zivilen Frieden zu wahren.«
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. August 2012
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