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Kein Vergessen in Sivas

Tausende Menschen erinnerten an Massaker von 1993

Von Corinna Trogisch, Istanbul *

Mehrere tausend Menschen haben am Montag in Sivas und vielen anderen Städten der Türkei an das Massaker an alevitischen Intellektuellen und Künstlern von 1993 erinnert. Diese hatten sich in der mittelanatolischen Stadt Sivas mit dem Schriftsteller Aziz Nesin, der mit der Herausgabe von Auszügen aus Salman Rushdies »Satanischen Versen« den Zorn religiös-nationalistischer Kreise auf sich gezogen hatte, zu einer Veranstaltung im Hotel Madi versammelt. Dieser Zusammenkunft, die der alevitischen spirituellen Identifikationsfigur Pir Sultan Abdal gewidmet war, galt ein Brandanschlag fundamentalistischer Rechter. Unter dem Beifall einer vor dem Hotel johlenden Menge verbrannten und erstickten 33 der Versammelten, während sich die Polizei nicht blicken ließ.

Seit der Gründung der Türkischen Republik sieht sich die etwa 15 bis 20 Millionen Staatsbürger umfassende alevitische Minderheit, deren Selbstdeutung sich zwischen schiitischem Islam und anatolischem Humanismus bewegt, Enteignung, Assimilation und Stigmatisierung sowie wiederholt purer Vernichtungspolitik infolge vom Staat geduldeter Übergriffe ausgesetzt. Noch immer kämpfen die Aleviten für eine Abschaffung des verpflichtenden islamischen Religionsunterrichts an Schulen sowie um Anerkennung und Schutz ihrer religiösen Stätten. Ein dazu jüngst von der prokurdischen BDP im Parlament eingebrachter Gesetzentwurf hat jedoch wenig Aussicht auf Erfolg. Statt dessen wurden in den letzten Jahren unter der Regierungspartei AKP an mehrheitlich von Aleviten bewohnten Orten reihenweise Moscheen gebaut, während deren Gebetshäuser unter baurechtlichen Vorwänden geschlossen wurden.

Gerade die Ereignisse nach dem Massaker von Sivas läßt wenig Raum für Hoffnungen auf Demokratisierung und gesellschaftliche Aussöhnung, von denen in den letzten Jahren in der Türkei soviel die Rede war. Einem Verdächtigen wurde über Deutschland die Flucht ermöglicht. Zudem gab es Versuche, die kurdische PKK für das Massaker verantwortlich zu machen. Als die Regierung nach erbitterten Streitigkeiten schließlich im Jahr 2011 auf die Forderung nach einer Umwidmung des Gebäudes zu einem Erinnerungsort einging, fanden sich auf einer Gedenktafel die Namen zweier im Feuer zu Tode gekommener Täter gleichwertig neben denen der Opfer. Die dagegen Protestierenden wurden von der Polizei verprügelt und mit Tränengas eingedeckt. Und es kam noch schlimmer: Die Justiz stellte am 13. März diesen Jahres das Verfahren um den Anschlag wegen »Verjährung« ein.

Vor diesem Hintergrund stieg die Zahl der an den gestrigen Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag teilnehmenden Menschen gegenüber den Vorjahren wieder an. Dazu trug auch eine Solidarisierung durch kurdische und sozialistische Organisationen bei. Erneut mußten die Teilnehmer jedoch Schikanen durch die Polizei über sich ergehen lassen. Mit Bussen anreisende Menschen wurden aufgehalten und durchsucht. Zudem wollten die Sicherheitskräfte nur Angehörige der Opfer bis zum Hotelgebäude vorlassen. Dies stieß auf den wütenden Protest der teilweise von weither Angereisten.

Erst im Frühsommer waren in etlichen Orten wieder Häuser von Aleviten von Unbekannten markiert worden, Pogromstimmung kam auf. Kemal Bülbül, ein politisch profilierter Kurde, der an der Spitze des alevitischen Pir-Sultan-Abdal-Kulturvereins mit 70 Niederlassungen im ganzen Land steht, kritisiert das Schweigen der AKP-Regierung hierzu. Diese befinde sich in einem »Krieg gegen die Bürger«. Auch die Oppositionspartei CHP, deren Vorsitzender Kemal Kiliçdaroglu sich nicht offensiv zu seiner alevitischen Herkunft bekennt, bietet keine Alternative. Hoffnungen vermittelt hingegen der 2011 gegründete »Demokratische Kongreß der Völker« (HDK), an dem alevitische Organisationen stark beteiligt sind. Dieser fordert die Regierung mit multikultureller, pluralistischer Oppositionspolitik heraus und trat gestern in mehreren Städten gut sichtbar für die Rücknahme des Verjährungsentscheids ein. Diese Forderung unterstützt auch der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes DISK, Erol Ekici. Das Massaker von Sivas müsse gemäß Paragraph 77 des türkischen Strafgesetzbuches als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« behandelt werden, erklärte er in einer schriftlichen Stellungnahme. Mithin könne es keine Verjährung geben.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 3. Juli 2012


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