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Schulen bleiben leer

Türkei: Kurdische Schüler fordern muttersprachlichen Unterricht

Von Nick Brauns *

In der Türkei hat am Montag das neue Schuljahr begonnen. Doch in kurdischen Städten blieben viele Schulgebäude leer. Die im Südosten des Landes dominante prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hatte zu einem einwöchigen Schulboykott aufgerufen, um für die Einführung muttersprachlichen Unterrichts zu protestieren. Eine weitere zentrale Forderung ist die Abschaffung des staatlichen Eides »Andimiz«, den Schüler täglich zu Unterrichtsbeginn ablegen müssen.

Dieser beginnt mit den Worten: »Ich bin Türke, aufrichtig, fleißig. Mein Grundsatz ist: die Jüngeren schützen, die Älteren respektieren, meine Nation und mein Volk mehr zu lieben als mich selbst.«

In der fast ausschließlich von Angehörigen der religiösen Minderheit der Aleviten bewohnten Provinz Dersim forderten zahlreiche Demonstranten zudem die Abschaffung des auch für Aleviten verpflichtenden islamischen Religionsunterrichts. Der auch von der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans PKK sowie einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen wie dem Sprachverein Kurdi-Der unterstützte Boykottaufruf traf auf große Resonanz. In der Millionenstadt Diyarbakir blieben viele Schulen verwaist, während sich Schüler vor den Schulgebäuden versammelten.

Die Polizei war mit Panzerwagen aufgefahren, und Zivilpolizisten informierten sich in den Schulen über die Beteiligung an den Protesten. In der Provinz Van folgten am Montag laut der Nachrichtenagentur Firat 90 Prozent der Schüler dem Boykottaufruf. In der Innenstadt von Hakkari erschienen nur 100 Schüler zum Unterricht. Auch in westtürkischen Städten wie Istanbul und Izmir beteiligten sich kurdische Schüler und Studenten an dem Boykott.

»Wir werden in Kurdistan als Kurden leben, kurdisch sprechen und in kurdisch unterrichtet werden«, hieß das Motto einer Großdemonstration in Diyarbakir zur Unterstützung des Boykotts. Auch in anderen kurdischen Städten gingen Tausende auf die Straße. Das Recht auf Unterricht in der Muttersprache sei ein elementares Menschenrecht, erklärte der BDP-Abgeordnete Özdal Ücer. Doch in der Türkei herrsche weiterhin das Verständnis von einer einheitlichen Sprache und Kultur vor. »Deswegen sollen alle Identitäten für die türkische Identität aufgeopfert und einer Assimilationspolitik ausgesetzt werden«, beklagte Ücer eine »faschistische Mentalität im Bildungssystem«. Schulunterricht in einer anderen als der türkischen Sprache wird so durch die Verfassung verboten. Erst vor wenigen Wochen hatten sich in der Parlamentskommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung die regierende islamisch-konservative AKP mit der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) und den faschistischen Grauen Wölfen der MHP darauf geeinigt, Türkisch auch in einer neuen Verfassung als einzige Amtssprache festzuschreiben. Die BDP hatte vorgeschlagen, in einzelnen Provinzen mit einem großen Anteil nichttürkischer Bevölkerungsgruppen wie Kurden oder Arabern auch andere amtliche Sprachen neben dem Türkischen zuzulassen. Die AKP hatte vor einem Jahr kurdischen Sprachunterricht lediglich als Wahlfach für obere Klassen eingeführt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 18. September 2013


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