Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Befasst euch mit unserem Schicksal"

Murat Eroglu ist mit 43 anderen Journalisten und Verlagsmitarbeitern in der Türkei angeklagt


Murat Eroglu ist einer von 44 überwiegend kurdischen Journalisten und Verlagsmitarbeitern, denen seit Mitte September in der Türkei ein Prozess wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation« gemacht wird. Der heute 27-Jährige arbeitete als Reporter bei der kurdischen Nachrichtenagentur DIHA. Als die Anklage erhoben wurde, war er dort nicht mehr tätig. Er hatte einen Job in der Filmbranche gefunden, seinem Studienfach. Die meisten Angeklagten in dem größten Presseprozess in der Türkei sitzen seit neun Monaten in Untersuchungshaft. Murat Eroglu gehört zu jenen zehn, die sich nach der Festnahme wieder – oder noch – auf freiem Fuß befinden. Mit ihm sprach Jürgen Reents.


nd: Sie stehen zusammen mit anderen Journalisten und Verlagsmitarbeitern vor Gericht. Was wirft Ihnen die Anklage vor?

Eroglu: Die Anklage hat eine Liste meiner Berichte angefertigt, die ich als Reporter bei DIHA / Dicle News Agency geschrieben habe. Sie behauptet, dass diese Artikel Propaganda seien. Ein Beispiel: Ich habe ein Interview mit der Mutter eines türkischen Soldaten gemacht. Diese Mutter sagt: Ich möchte Frieden, ich möchte, dass das Töten aufhört. Der Staatsanwalt sieht darin einen Beleg, dass meine Texte Hass und Separation provozieren. Die Mutter will Frieden, wieso soll das Hass hervorrufen?

Ein anderer Artikel handelt von Studenten in Çanakkale, das liegt im europäischen Teil der Türkei. Sie wurden aufgrund von polizeilichen Beschuldigungen von der Uni geworfen, die Universitätsverwaltung handelte ohne richterlichen Beschluss. Das ist ungesetzlich. Von diesem Artikel behauptet die Anklage, damit hätte ich die Polizei verleumdet.

Sie kritisieren das Verfahren grundsätzlich?

Der Prozess hat keine legale Grundlage. Unsere Festnahmen waren politisch und das Verfahren ist politisch. Es ist ein Schauprozess. Der Richter hört definitiv nicht zu und versucht nicht zu verstehen, was die Verteidiger sagen. Er weiß offenbar längst, wen er freilassen wird und wen nicht. Das ist in allen Prozessen so, bei denen es um die Unterstützung oder die Mitgliedschaft in einer »terroristischen Organisation« geht, womit die KCK gemeint ist. In unserem Prozess gibt es einen oder mehrere anonyme Zeugen, deren Beschuldigungen der Anklage zugrunde liegen. Wir fordern, dass diese geheimen Quellen vor Gericht offengelegt und von der Verteidigung befragt werden können. Aber der Richter sagt: Die Zeugen der Anklage müssen geschützt werden. Das ist weit weg von jeder Rechtsstaatlichkeit.

Was ist für Sie der politische Hintergrund dieses Prozesses?

Der Prozess ist Teil des kurdischen Konflikts in der Türkei. Es gab zunächst Festnahmen von kurdischen Politikern, dazu zählten auch gewählte Bürgermeister und Parlamentarier. Auch Anwälte wurden inhaftiert, dann waren Journalisten dran. Die hauptsächlichen Medien in der Türkei sind unter Kontrolle der regierenden AKP. Im wesentlichen haben nur die kurdische Presse und einige linke Medien ihre Unabhängigkeit bewahrt. Sie schreiben, was in Kurdistan wirklich geschieht, wie die kurdische Bevölkerung lebt und was sie erdulden muss. Die kurdische Presse hat zum Beispiel aufgedeckt, dass verhaftete Jugendliche im Gefängnis sexuell missbraucht wurden. Diese Presse will die Regierung zum Schweigen bringen.

Ist das eine neue Entwicklung?

In den 90er Jahren gab es bereits eine Repressionswelle gegen die freie Presse und es betraf auch damals vor allem kurdische Medien. Eine große Zahl kurdischer Journalisten wurde ermordet. Zumeist hieß es dann, es handle sich um »nicht identifizierte Täter«. Aber wir wissen, dass sie aus den paramilitärischen Strukturen des Regierungsapparats kamen. Andere Kollegen wurden inhaftiert, zum Teil gefoltert, einige verschwanden spurlos. Auf die Zeitung Özgür Gündem gab es zwei Bombenanschläge, das war Mitte der 90er Jahre während der Regierungszeit von Tansu Çiller. Die Ministerpräsidentin hatte kurz zuvor die Zeitung öffentlich gerügt und gesagt, man werde auf ihre Berichterstattung reagieren. Die Bedrängungen der freien Presse sind also nicht neu. Bei DIHA habe ich erlebt, dass wir während unserer Arbeit ständig von ziviler Polizei überwacht wurden, häufig werden Kameras beschlagnahmt.

Wie wirkt sich das auf die Arbeit der Journalisten aus?

Kurdische Journalisten arbeiten mit dem ständigen Bewusstsein, dass sie drangsaliert, verhaftet und auch getötet werden können. Wir haben uns deswegen angewöhnt, nicht mehr alleine auf Reportage zu gehen. Wir gehen zu zweit, halten uns aber entfernt voneinander auf, so dass es immer einen Zeugen gibt, wenn dem einen etwas zustößt.

Werden ausschließlich kurdische Medien und solche mit kurdischen Journalisten verfolgt?

Es richten sich auch Angriffe gegen oppositionelle türkische Medien, auch gegen oppositionelle oder prokurdische Journalisten in den Mainstream-Medien. Die bekannte Journalistin Nuray Mert, die bei Milliyet, einer großen nationalen Zeitung gearbeitet hat, wurde wegen ihrer regierungskritischen Artikel gefeuert. Ebenso Banu Güven, sie war Fernsehmoderatorin bei NTV, und der NTV-Kommentator Ruşen Çakır. Die Regierung und die ihr hörigen Verlagshäuser mögen keine oppositionellen Stimmen.

Nach dem Massaker in Roboskî im letzten Dezember, bei dem 34 Zivilisten durch Luftangriffe ums Leben kamen, hat die Regierung alle Mainstream-Medien angerufen, darüber nicht zu berichten. 24 Stunden lang hielten sie sich daran. Sie brachen ihr Schweigen nur, weil DIHA und Özgür Gündem sofort darüber schrieben. Es zeigt zweierlei: Wie gehorsam die türkischen Massenmedien gegenüber der Regierung sind, und wie wichtig eine freie Presse ist.

Warum sind die türkischen Massenmedien Ihrer Ansicht nach gehorsam?

Es sind eine Menge ökonomischer Interessen im Spiel. Als die AKP an die Macht kam, war zum Beispiel die Doğan-Gruppe, die einen großen Teil der Medien besitzt sehr kritisch. Die AKP-Regierung hat jedoch einige ökonomische Mittel eingesetzt, um sie gefügig zu machen. Sie hat die Doğan-Gruppe von staatlichen Ausschreibungen und Aufträgen ferngehalten und Strafen gegen sie wegen Steuerangelegenheiten verhängt. Daraufhin lenkte Doğan ein und verließ seinen regierungskritischen Kurs. Der Konzern wurde reicher und reicher, kaufte einen TV-Sender nach dem anderen, eine Zeitung nach der anderen. Nun ist er eine große Stütze der Regierung. Der Fall um Hrant Dink ist ein Beispiel dafür. Der armenische Journalist wurde im Januar 2007 durch Nationalisten ermordet. Anfangs widmeten die Mainstream-Medien diesem Fall große Beachtung. Heute halten nur noch kurdische und linke oppositionelle Medien die Erinnerung daran wach und schreiben, dass Hintermänner und Mitverantwortliche des Mordes immer noch auf freiem Fuß sind.

Wie reagieren einzelne Journalisten auf die Einschüchterung?

Die Einschüchterung und der Druck sind insgesamt erfolgreich. Ich kenne aber eine Reihe von türkischen Reportern, die mit dieser Entwicklung nicht einverstanden sind. Sie erhalten für ihre Recherchen über Misshandlungen und Rechtsverletzungen auf Polizeistationen in ihren eigenen Zeitungen keinen Platz mehr und wenden sich dann gelegentlich an Medien, die keine Selbstzensur üben. Ich habe das bei der Nachrichtenagentur selbst erlebt und Material von solchen Kollegen untergebracht, sie wollten zumeist aber ihren Namen geheim halten.

Ist es schwer, Nachwuchs für Journalisten in Haft zu finden?

Wenn jemand inhaftiert wird, rückt ein anderer nach. Das gilt für die Kämpfer in den kurdischen Bergen, und das gilt ebenso für die kurdischen Medien. Nicht alle bei uns hatten zuvor eine journalistische Ausbildung, sie lernten in der Arbeit. Die Kurden haben so viel erlitten und so viel erduldet, daraus wächst eine Kraft, zu widerstehen, zu wagen und für einander einzutreten, wenn jemand ersetzt werden muss. Es ist das Ergebnis unseres Kampfes um Freiheit und ein würdevolles Leben. Jede kurdische Familie hat Angehörige, die getötet, gefoltert, verhaftet wurden, alle kennen das Leid. Die kurdische Bewegung hat ein tiefes Bewusstsein von Solidarität und gemeinsamem Handeln entwickelt. Ich selbst bin zu DIHA gegangen, weil andere verhaftet waren und ich fühlte, dass nun meine Hilfe gebraucht wird. Und so taten und tun es viele andere. Wir brauchen kein Diplom, wir brauchen das Bewusstsein, dass das, was wir tun, riskant ist, und die Bereitschaft, dieses Risiko zu tragen.

Mit welchem Ende des Prozesses rechen Sie?

Alles hängt von der Regierung ab und davon, wie sie die politische Entwicklung weiter treiben will. Sie hat sich zu geheimen Verhandlungen mit der PKK getroffen. Wenn sie ernsthaft verhandeln und nach einer Lösung suchen wollte, gäbe es keine 8 000 kurdischen Gefangenen. Die Regierung will zeigen, dass sie alles kann: Ich kann eure Politiker verhaften, eure Anwälte, eure Journalisten. Sie zeigt ihre Macht, das ist ihr Spiel. Wenn die Regierung mit der Freilassung aller Gefangenen einverstanden ist, werden alle freigelassen, wenn die Regierung das nicht will, passiert es nicht. Es kann sein, dass in der nächsten Prozessrunde zwei Inhaftierte frei kommen, in der übernächsten drei, in der folgenden einer - und so kann es über zwei, drei, fünf Jahre gehen. So geschah es in allen KCK-Verfahren. Sie begannen 2009. Aber das heißt: Etliche bleiben ohne irgendwelche Beweise von Straftaten im Gefängnis.

Was lässt Sie persönlich nicht aufgeben?

Man ist nicht zum Widerstand gezwungen: Wenn es in der Türkei Kurden gibt, die sich nicht in diesem Kampf befinden, und es gibt sie, dann kann es durchaus sein, dass sie ein angenehmes Leben führen. Einzelne können sogar reich und Minister werden. Aber nach meiner Überzeugung verraten sie damit das Volk. Ich persönlich kann mich aus diesem Kampf nicht heraushalten. Es hat sehr persönliche Gründe für mich: Mein Großvater wurde vom türkischen Staat hingerichtet, er hat kein Grab. Meine Tante ist verschwunden, wir wissen nicht, wo sie ist. Viele meiner Familienangehörigen wurden ermordet. Meine Großmutter war nach dem Massaker 1938 in Dêrsim, bei dem über Zehntausend getötet wurden, verschwunden. Meine Familie setzte alles daran, sie zu finden, und sie fanden sie schließlich. Sie war vergewaltigt worden und schwer misshandelt. Ich bin Teil der Tragödie der kurdischen Geschichte. Ich kann nicht leben, ohne Teil des Kampfes um unsere Freiheit zu sein.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben: als demokratischer, sozialistischer oder kurdischer Journalist?

Ich bin ein sozialistischer kurdischer Journalist.

Haben Sie Fragen, die Sie an Ihre Kollegen in anderen Ländern richten möchten?

Mich würde interessieren, wie sehr sie wirklich Bescheid wissen über die Rechtsverstöße in Kurdistan, über die Verbrechen an den Armeniern, über die Verbrechen an den Kurden, über die Verbrechen an den Aleviten und all die anderen Verbrechen. Als kurdischer Journalist möchte ich sie bitten, sich mit unserem Schicksal zu befassen, denn wir allein haben es schwer, unsere Stimme international zu Gehör zu bringen. Es gibt viele Länder in der Welt, über die die europäischen Medien sehr viel berichten. Aber ich habe das Gefühl, dass das zu Kurdistan wenig der Fall ist. Ich möchte meine Kollegen bitten, unsere Geschichte zu erzählen.

Sie sind nach Ihrer Arbeit als Reporter bei DIHA in die Filmbranche gewechselt. Was machen Sie da?

Ich habe an den Dreharbeiten für eine TV-Serie mitgewirkt. Als die Anklage kam - ich war da schon nicht mehr bei der Nachrichtenagentur tätig -, wurde ich entlassen. Sie wollten keinen »Terroristen« am Filmset. Jetzt arbeite ich an einem eigenen Drehbuch. Es ist die Geschichte eines Vaters und seines Sohnes, der nachts im Obst- und Gemüsemarkt arbeitet. Natürlich ist es die Geschichte einer Familie, die aus Kurdistan emigrierte. Der Vater ist Analphabet, er hat keine Ausbildung und muss seine Arbeitskraft zu den schlechtesten Bedingungen verkaufen. Wenn ich einen Geldgeber finde, werde ich den Film machen. Aber das wird schwer in der Türkei, denn der Film wird eine politische Aussage haben.

Das Interview wurde am 12. September 2012 in Istanbul geführt. Türkisch-englisch gedolmetscht hat Burcu Sahinli.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 04. Oktober 2012


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Medien-Seite

Zurück zur Homepage