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Journalisten vor Gericht

Türkei: Prozeß gegen Dutzende Medienvertreter beginnt in Istanbul. Regierungskritische Berichterstattung wird als Terrorismus verfolgt

Von Nick Brauns **

Im größten Prozeß gegen oppositionelle Journalisten in der türkischen Geschichte stehen in Istanbul ab heute 44 Mitarbeiter prokurdischer und linker Medien vor Gericht. 36 der angeklagten Journalisten und Herausgeber, die unter anderem für die kurdischsprachige Tageszeitung Azadiya Welat, die Nachrichtenagenturen Firat und Dicle oder das libertäre Theoriemagazin Demokratik Modernite arbeiten, befinden sich seit einer landesweiten Razzia vom Dezember letzten Jahres in Untersuchungshaft. Nach dem Antiterrorgesetz wird ihnen »Mitgliedschaft und Rädelsführerschaft in einer illegalen Organisation« vorgeworfen. Gemeint ist die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), ein aus der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hervorgegangener Dachverband. Wegen der Beschuldigung der KCK-Mitgliedschaft wurden seit 2009 rund 8000 Menschen verhaftet, darunter kurdische Parlamentarier und Kommunalpolitiker sowie Vorstandsmitglieder prokurdischer Parteien, Rechtsanwälte, Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafter und eben auch Journalisten. Sie werden bezichtigt, durch ihre kommunalpolitische Arbeit, ihre Anwaltstätigkeit für den inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan oder durch regierungskritische Berichterstattung die Ziele der PKK unterstützt zu haben. »Zwischen den Kugeln, die abgefeuert werden, und den Sachen, die in Ankara geschrieben werden, besteht kein Unterschied«, setzte Innenminister Idris Naim Sahin kürzlich die oppositionellen Journalisten kurzerhand mit der Guerilla gleich.

Die 800 Seiten lange Anklageschrift beruht zu weiten Strecken auf den Aussagen »geheimer Zeugen« und Informanten. Zudem werden zahlreiche Artikel und Agenturmeldungen der Beschuldigten aus prokurdischen Medien wie den aus Europa über Satellit ausgestrahlten Fernsehsendern Roj und Nuce TV und den legal in der Türkei erscheinenden Zeitungen ¬Azadiya Welat und Özgür Gündem angeführt. Zu den beanstandeten Beiträgen gehören unter anderem Interviews mit dem Vorsitzenden der im türkischen Parlament vertretenen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Selahattin Demirtas, ebenso wie die Veröffentlichung der Gesprächsnotizen von Öcalans Anwälten über Treffen mit ihrem Mandanten. Berichte über Tote bei Kämpfen zwischen der Armee und der Guerilla zielten laut Anklage darauf, Unfrieden unter der Bevölkerung zu stiften. Einer Journalistin wird aufgrund ihrer Reportage über sexuelle Übergriffe bei der teilstaatlichen Fluggesellschaft Turkish Airlines Verächtlichmachung des türkischen Staates vorgeworfen. Zum Prozeßauftakt sind Vertreter von Journalistenverbänden aus mehreren europäischen Staaten nach Istanbul gereist, um Solidarität mit ihren verfolgten Kollegen zu zeigen.

Nach Informationen der »Plattform für inhaftierte Journalisten« befinden sich in der Türkei zur Zeit 97 Journalisten und Verleger im Gefängnis, gegen rund 600 Pressevertreter laufen Verfahren. Betroffen sind vor allem die Mitarbeiter prokurdischer und sozialistischer Medien sowie radikale Laizisten.

Unterdessen sind bei neuerlichen Kämpfen zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfern seit Mitte vergangener Woche an die 30 Menschen getötet worden. Am Mittwoch begann die Armee in der Provinz Sirnak im Südosten des Landes eine großangelegte Offensive gegen die Guerilla.

** Aus: junge Welt, Montag, 10. September 2012


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