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Abgeordneter in PKK-Haft

Türkei: Guerillakämpfer entführen kemalistischen Politiker

Von Nick Brauns *

Erstmals haben Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen Abgeordneten des türkischen Parlaments gefangengenommen. Nach Angaben von Provinzgouverneur Mustafa Taskesen hatte eine Guerillaeinheit am Sonntag abend in der Bergprovinz Tunceli (kurdisch: Dersim) den Wagen des Abgeordneten der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) Hüseyin Aygün an einer Straßenkreuzung bei Ovacik gestoppt. Aygüns Begleiter, sein Referent und ein Journalist, wurden freigelassen. Mit den Worten »Sie werden einige Tage lang unser Gast sein« zwangen die Guerillakämpfer den Abgeordneten, ihnen in den Wald zu folgen. Die PKK hat die Entführung bestätigt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nannte die Aktion einen »Angriff auf das Parlament«. Auch die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) sprach von einem »nicht akzeptablen Vorfall« und verlangte die sofortige Freilassung Aygüns. Während die Armee die Suche nach Aygün aufgenommen hat, forderte dessen Familie einen Stopp der Militäroperationen, um das Leben des Abgeordneten nicht zu gefährden.

Der dem Menschenrechtsausschuß des Parlaments angehörende Rechtsanwalt Aygün hat sich vor allem für die Rechte der in Dersim dominanten alevitischen Glaubensgemeinschaft stark gemacht. Im vergangenen Jahr hatte der kurdischstämmige Politiker BDP und PKK im Wahlkampf vorgeworfen, die Bevölkerung durch »Terror« unter Druck zu setzen. Im Juni letzten Jahres hatte die CHP knapp beide Parlamentsmandate für Dersim erobert. Der Verlust der traditionell rebellischen Region wurde von der BDP als herbe Niederlage empfunden.

In den letzten Monaten hat die PKK in den von ihr zur demokratischen Autonomie erklärten kurdischen Landesteilen bei Straßenkontrollen mehrfach Kollaborateure des Staates wie Dorfschützer und am Kasernen- oder Staudammbauten beteiligte Unternehmer oder Arbeiter verschleppt. In der Regel kamen die Gefangenen nach einer Befragung und der Zusicherung, nicht weiter für den Staat zu arbeiten, nach wenigen Tagen unversehrt frei. Erst letzte Woche waren drei Soldaten an einer Schnellstraße in der Provinz Diyarbakir aus einem Bus heraus gefangengenommen worden.

Nach rund drei Wochen schwerer Gefechte gegen Hunderte im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet um die Kleinstadt Semdinli verschanzte Guerillakämpfer hat der Provinzgouverneur von Hakkari am Wochenende ein Ende der Operationen und den Rückzug der Kommandoeinheiten erklärt. Dagegen warnte der pensionierte General Osman Pamukoglu die Regierung im Fernsehsender Habertürk vor einem Verlust der Provinz Hakkai an die PKK. Unterdessen meldet die Guerilla den Tod von 18 Soldaten und einem PKK-Kämpfer bei einem Angriff auf einen Militärkonvoi in der Nachbarprovinz Van.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 14. August 2012


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