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Grenzübergreifende PKK-Jagd

Türkei verlängert sich selbst die Erlaubnis, in Irak einzumarschieren

Von Jan Keetman, Istanbul *

Das türkische Parlament hat am Mittwoch (8. Okt.) mit den Stimmen aller Fraktionen außer der prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft die Verlängerung des Mandates für einen Einmarsch der türkischen Armee in Irak um ein Jahr beschlossen.

Die Erlaubnis, die Separatisten von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auch in ihrem Rückzugsgebiet in Nordirak zu anzugreifen, wäre am 17. Oktober ausgelaufen. Erst am Freitag hatte die PKK einen Militärstützpunkt bei dem Dorf Aktütün, wenige Kilometer von der irakischen Grenze entfernt, am hellen Mittag angegriffen. Dabei starben 17 Soldaten und mindestens neun Rebellen.

Der Tod der jungen Soldaten hat in der Türkei große Bestürzung ausgelöst, Zehntausende folgten den Särgen der Gefallenen. In der Öffentlichkeit kam auch die Frage auf, warum es nicht möglich war, eine Militärbasis, die bereits viermal angegriffen worden war, besser zu schützen.

Das Militär nutzte die aufgewühlte Stimmung, um zusätzlich zur Verlängerung des Mandates für einen Einmarsch auch erweiterte Befugnisse für die Gendarmerie zu fordern. Unter anderem sollen die dem Militär angegliederten Gendarmen das Recht zu Hausdurchsuchungen ohne Gerichtsbeschluss erhalten.

Aus der Opposition kam gestern auch die Forderung nach der Einrichtung einer Pufferzone zwischen Irak und der Türkei. Oppositionsführer Deniz Baykal ging sogar so weit, eine Änderung des Grenzverlaufes zu fordern. Baykal spekulierte, dass die Grenze zwischen der Türkei und dem damaligen britischen Mandatsgebiet Irak in den zwanziger Jahren absichtlich zum Teil auf nicht zu kontrollierende dreitausend Meter hohe Bergkämme gelegt wurde, um der Türkei zu schaden.

Der durch die Vorfälle offensichtlich etwas in Bedrängnis geratene Ministerpräsident Tayyip Erdogan wich Fragen nach einer Pufferzone unter Hinweis auf einen für den heutigen Donnerstag geplanten Sicherheitsgipfel in Ankara aus. Bei einem Besuch in Finnland verteidigte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül die bevorstehende Entscheidung für eine Mandatsverlängerung. Es gehe nicht darum »die Kurden zu bombardieren«. Die türkischen Streitkräfte würden lediglich Schlupfwinkel der PKK in unkontrollierbaren Gebirgsregionen in Nordirak bekämpfen.

Gestern griff die türkische Armee den vierten Tag hintereinander vermutete PKK-Gruppen in Nordirak mit Flugzeugen an. In der Nähe des überfallenen Stützpunktes bei Aktütün wurden auch der Aufmarsch gepanzerter Fahrzeuge und das Ausheben von Schützengräben beobachtet. »Die Türkei ist nicht in einer Lage, wo zwischen Sicherheit und Freiheiten entschieden werden müsste«, sagte Justizminister Ali Sahin in einer Reaktion auf die Kämpfe mit der PKK.

Menschenrechtsgruppen melden Bedenken an. Die Zeitung »Zaman« zitiert den pensionierten Militär-Staatsanwalt Ümit Kardas, der das Militär als Teil des Problems sieht. Schon jetzt seien die Machtbefugnisse zu groß. »Das eigentliche Problem ist, dass die Politik die Angelegenheit dem Militär überlassen haben«, sagt Kardas.

Seit der Erteilung der Einmarscherlaubnis vor einem Jahr hat die türkische Armee zahlreiche Bombardements auf irakischem Gebiet durchgeführt und im Februar mit mehreren tausend Soldaten die Grenze überschritten, um grenznahe PKK-Verstecke auszuheben. Der Hauptstützpunkt der PKK befindet sich jedoch am Berg Kandil über hundert Kilometer von der türkischen Grenze entfernt.

In dem Kurden-Konflikt starben nach Angaben der türkischen Armee schon mindestens 35 000 Menschen. Erdogan will die Schraube der Demokratisierung, die auf dem Weg Richtung EU weiter gelockert werden muss, nicht wieder zudrehen. »Unser Land wird sich weiter entwickeln, ohne Rückschritte bei demokratischen Freiheiten und Menschenrechten«, sagte der Regierungschef.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Oktober 2008


Blankovollmacht für Angriffe

Türkisches Parlament debattiert weitere Militäroperationen im Nordirak

Von Nico Sandfuchs, Ankara **

In nationalistisch aufgeladener Atmosphäre hat das türkische Parlament am gestrigen Mittwoch über eine Verlängerung der Vollmacht an den Generalstab diskutiert, im Nord­irak nach eigenem Gutdünken Militärschläge gegen die kurdische Guerillaorganisation PKK durchzuführen. Die Erneuerung der im vergangenen Oktober erstmals erteilten Befugnis sei notwendig, um die PKK endgültig aus ihren nordirakischen Rückzugsgebieten zu vertreiben, hatte die türkische Armeeführung im Vorfeld argumentiert.

Die linke Opposition hingegen appellierte vor der Abstimmung, die »gefährliche Blankovollmacht auf keinen Fall noch einmal auszustellen«. Mindestens 773 Armeeangehörige und Guerilleros seien seit der erstmaligen Verabschiedung vor einem Jahr bei Gefechten ums Leben gekommen, rechnete der Vorsitzende der »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP), Ahmet Türk, vor. Doch von einer Lösung sei man beim Kurdenproblem inzwischen weiter entfernt als jemals zuvor. Durch die Eskalationspolitik der Regierung seien ethnische Spannungen zwischen Kurden und Türken gefährlich angeheizt worden. Auch Ufuk Uras von der sozialistischen »Partei der Freiheit und Solidarität« (ÖDP) forderte eine sofortige Einstellung der Angriffe im Nordirak. Die Ursachen des Kurdenproblems seien hausgemacht und müßten deshalb auch innerhalb der Landesgrenzen mit demokratischen Mitteln gelöst werden.

Vertreter der Regierung und der Opposition zeigten sich entschlossen, den »Kampf gegen die Terroristen um jeden Preis fortzusetzen«. Die Verabschiedung der Ermächtigung wenige Tage nach dem verheerenden PKK-Angriff auf eine Militärbasis sei eine Frage der »nationalen Geschlossenheit«, erklärte Kabinettschef Tayyip Erdogan. Seine Regierung sei bereit, auch noch weiter gehende Forderungen der Militärs zu erfüllen: »Sagen Sie uns, was Sie brauchen – wir werden es bereitstellen«, so Erdogan in Richtung Generalstab. Vertreter der kemalistischen CHP und der ultranationalistischen MHP verlangten gestern einen sofortigen Einmarsch in den Nordirak, um »das Terrorproblem zu beenden«.

Beobachter erwarteten, daß bei der nach Redaktionsschluß erfolgten Abstimmung eine überwältigende Mehrheit der 550 Abgeordneten für eine Verlängerung der Blankovollmacht votieren würde. Gegen eine Verlängerung hatten sich in den vergangenen Tagen lediglich die 22 Abgeordneten der linken Opposition ausgesprochen.

** Aus: junge Welt, 9. Oktober 2008


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