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Krieg am Rand der Städte

Kurdische PKK kontrolliert ein 400 Quadratkilometer großes Gebiet

Von Nick Brauns, Hakkari *

Der Krieg zwischen der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der türkischen Armee rückt immer näher an die kurdischen Städte heran. In Hakkari war in der Nacht zum Donnerstag stundenlang Gefechtslärm zu hören. Geschoßbahnen erhellten den Himmel über den Bergen, in deren Kessel die Provinzhauptstadt liegt.

Seit Juli sind die Volksverteidigungskräfte (HPG), wie die Guerilla offiziell heißt, von ihren bisherigen Hit-and-run-Attacken dazu übergegangen, innerhalb der türkischen Grenzen ein Gebiet von rund 400 Quadratkilometern zwischen den Kleinstädten Semdinli, Cukurca und Beytüssebap unter ihre Kontrolle zu bringen. Die städtischen Zentren werden zwar weiterhin von Militär und Polizei beherrscht, doch die umliegenden Berge mit ihren Hochweiden werden von der Guerilla so kontrolliert, daß sich das Militär dort nicht mehr frei bewegen kann. Auch in Hakkari verläßt die Polizei ihre Kasernen aus Sicherheitsgründen nur noch in gepanzerten Fahrzeugen. Ein Großteil der zahlreichen Kontrollpunkte, an denen Bewohner der Region immer wieder von den Sicherheitskräften mißhandelt wurden, sind inzwischen aufgegeben worden. Anderswo werden Fahrzeuge schnell durchgewunken. Dagegen kommt es nahezu täglich zu Straßensperren durch die PKK.

Bei den Sicherheitskräften herrsche Unsicherheit, berichtete Yusuf Temel, der Bürgermeister der 5200-Einwohner-Gemeinde Beytüssebap in der Provinz Sirnak. Rund um den Ort hätten sich mehrere hundert Kämpfer im schwer zugänglichen Kato-Gebirge verschanzt, die von dort immer wieder Angriffe auf die Militärstützpunkte am Rande der Stadt unternehmen. Aus Angst vor Schießereien trauten sich die Einwohner nach acht Uhr abends nicht mehr auf die Straße, während nervöse Polizisten in Panzerwagen im Minutentakt über die Hauptstraße fahren. Einschüsse in Ladenzeilen rund um das Polizeihauptquartier erinnern an heftige Gefechte, nachdem vor einem Monat Dutzende Guerillakämpfer offen in den Ort einmarschiert, kurzfristig das Zentrum eingenommen und die türkischen Flaggen durch PKK-Fahnen ersetzt hatten. Nach drei Tagen zogen sich die Aufständischen wieder aus dem Ort zurück, doch wenige Autominuten von der Jandarmakaserne am Stadtrand entfernt sind die Symbole der HPG an die Felswände gemalt. Hier beginnt das von der Guerilla kontrollierte Gebiet.

Zu Kämpfen kommt es auch in anderen kurdischen Provinzen. So wurden am Dienstag nach Angaben der Aufständischen rund 100 Soldaten einer Spezialeinheit getötet, als ihre Kolonne in der Provinz Bingöl in einen Hinterhalt geriet. Die Armee spricht von lediglich zehn getöteten Soldaten. Doch die mit finanziellen Anreizen angelockten Berufssoldaten in solchen Spezialeinheiten müssen bei ihrer Dienstverpflichtung einwilligen, daß die Armee ihren Tod verheimlichen darf.

Sorge bereitet der Guerilla dagegen der zunehmende Einsatz international geächteter chemischer Waffen durch die türkische Armee. Am Rande einer Hochweide auf dem Berg Kato zeigt Bürgermeister Temel die Spuren mutmaßlicher Napalmbomben, die hier Anfang September nach einem dreitägigen Gefecht von Cobra-Kampfhubschraubern auf eine Guerillaeinheit abgeworfen wurden. Hirten, die die sieben Leichen bargen, berichteten von verbrannten Körpern, deren innere Organe geplatzt waren. Auch Nervengifte, die die Guerillakämpfer wehrlos machen, sollen nach PKK-Angaben an mehreren Orten zum Einsatz gekommen sein.

* Aus: junge Welt, Freitag, 21. September 2012


Trophäen auf Facebook

Türkische Soldaten posieren vor getöteten Aufständischen und stellen Foto ins Internet

Von Martin Dolzer **


Türkische Soldaten haben auf der Internetplattform Facebook ein Foto veröffentlicht, auf dem 43 Uniformierte vor den Leichen von acht getöteten Guerillakämpfern posieren. Das Bild stammt Berichten kurdischer Nachrichtenagenturen zufolge vom Militärstützpunkt Güzel Konak in der Region Hakkari. Entstanden sein soll die Aufnahme am 14. oder 15. September. Augenzeugenberichten zufolge, die in der Regionalzeitung Yüksekovahaber und von der Nachrichtenagentur DIHA veröffentlicht wurden, waren die Leichen zu diesem Zeitpunkt schon zwei Tage lang im Garten des Stützpunktes »ausgestellt« und von Soldaten geschändet worden. Offiziere sollen dann die Aufstellung der Soldaten für das Foto veranlaßt haben. Zudem berichten weitere Augenzeugen, daß die Schüler der örtlichen Grundschule gezwungen worden seien, sich die Leichen anzusehen.

»Hierbei handelt es sich gemäß internationalem Kriegsrecht wie auch nach dem Völkerstrafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland um ein Kriegsverbrechen. Das Recht auf Achtung der Gefallenen findet sich auch im ersten Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen«, kommentierte dies gegenüber junge Welt der Rechtsanwalt Heinz-Jürgen Schneider. Die Soldaten hätten sich einer entwürdigenden Behandlung der Getöteten schuldig gemacht, so der Jurist. »Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist jede Herabsetzung, wie eine Zurschaustellung durch Bilder und deren Verbreitung. Genau das ist hier geschehen. Da daß Bild sich auf Facebook befindet oder befand, ist die Handlung auch vorsätzlich begangen worden. Dazu kommen erschwerend die postmortalen Verstümmelungen.« Die Identität der Täter, die das Foto veranlaßt und ins Internet gestellt haben, ist bisher nicht bekannt. Sie dürfte jedoch nicht schwer zu ermitteln sein, wenn der politische Wille dazu da wäre. Die Soldaten sind auf dem Foto zu erkennen und können einer Einheit zugeordnet werden.

Vertreten durch Schneider und dessen Kollegin Britta Eder hatten erst im November 2011 der Bundestagsabgeordnete Harald Weinberg (Die Linke) und die Schriftstellerin Doris Gercke gemeinsam mit weiteren Personen bei der Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe Anzeige gegen die türkische Armee und Sicherheitskräfte wegen Kriegsverbrechen erstattet. Sie richtete sich gegen den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan sowie die drei letzten Generalstabschefs als oberste Befehlshaber sowie gegen bisher nicht identifizierte Soldaten. Angezeigt wurden neben Chemiewaffeneinsätzen, außergerichtlichen Hinrichtungen, Tötungen nach Festnahmen auch die Verstümmelung von gefallenen Guerillakämpfern und weitere Verbrechen. Die BAW war bisher nicht bereit, Anklage zu erheben.

** Aus: junge Welt, Freitag, 21. September 2012


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