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"NATO will eigene Präsenz stärken"

Stationierung von »Patriot«-Raketen in der Türkei hat nichts mit Grenzsicherung und Schutz vor Granatbeschuß aus Syrien zu tun. Ein Gespräch mit Levent Tüzel *



Die türkische Regierung hat NATO-Unterstützung zur Sicherung der Grenze zu Syrien angefordert. NATO-Militärs inspizieren in dieser Woche in der Provinz Malatya geeignete Standorte für »Patriot«-Raketen. Seit wann ist die türkische Armee nicht mehr in der Lage, ihr Land zu verteidigen?

Das ist eine berechtigte Frage. Die türkische Armee wird ja überall als die zweitstärkste der Welt dargestellt. Die Anfrage der Türkei nach einer Stationierung von »Patriot«-Raketen ist daher in erster Linie dem Wunsch der NATO geschuldet, in der Region stärker präsent zu sein. Dafür werden dann die üblichen Vorwände genommen, bis hin zum Vorwurf, die syrische Armee verfüge über chemische Waffen. Das gleiche Szenario wie im Vorfeld des Irak-Krieges.

In Kürecik in der Provinz Malatya hat die NATO bereits ein Frühwarn-Radarsystem aufgestellt, als Teil der europäischen Raketenabwehr, wie es heißt. All diese Schritte sind einerseits gegen den Iran gerichtet. Auf der anderen Seite geht es um die Sicherung Israels. Das ganze ist Teil des »Greater Middle East Projets«, dem sich auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verschrieben hat. Das Projekt sieht die »Neugestaltung« des Nahen Ostens vor. Die Stationierung von Raketenabwehrsystemen an der türkisch-syrischen Grenze ist Teil dieses Plans.

Bei den aktuellen Spannungen geht es eher um den Iran als um Syrien. Die Türkei ist militärisch durch Syrien nicht bedroht worden. Es gingen ein paar Granaten in Grenznähe nieder. Die syrische Regierung hat von einem Irrtum gesprochen und sich offiziell dafür entschuldigt, daß Artilleriegeschosse auf türkischem Boden eingeschlagen sind. Die angeforderten »Patriot«-Raketen sind nicht geeignet, solche Geschosse abzuwehren.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß die türkische Regierung die Einheiten der »Freien Syrischen Armee« im Grenzgebiet gewähren läßt. Man kann sich also nicht darüber beklagen, wenn die dann auch nah an der türkischen Grenze beschossen werden.

Wie stark ist die Türkei in dem Bürgerkrieg involviert?

Noch vor eineinhalb Jahren gab es sehr gute Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien. Das ging soweit, daß die Regierungen beider Länder gemeinsame Kabinettssitzungen abgehalten haben. Als die Volksaufstände in der arabischen Welt losgingen, haben die imperialistischen Mächte versucht, auf einen Regimewechsel in Syrien hinzuwirken. Man versuchte, die Unzufriedenheit in der syrischen Bevölkerung auszunutzen. Die resultierte aus den Folgen der neoliberalen Politik. Doch neben Demonstrationen gab es bewaffnete Angriffe. Die imperialistischen Mächte hatten von sich aus paramilitärische Einheiten zusammengezogen und mit Waffen versorgt.

Die türkische Regierung hat sich offen auf die Seite der Banden der »Freien Syrischen Armee« geschlagen und erklärt, es sei ein Verbrechen an der Menschheit, was im Nachbarland vor sich gehe. Dem könne man nicht nur zuschauen, wir müssen uns alle für eine Seite stark machen – die der Aufständischen gegen Assad. Diese Haltung war eigentlich eine Kriegserklärung. Man hat Assad zum Feind erklärt, der sein Volk unterdrückt, und versichert, die Türkei möchte sich nicht mit der Zuschauerrolle begnügen.

Die »Freie Syrische Armee« wird nicht nur logistisch unterstützt. Mehr und mehr wurde psychologisch ein Klima für eine weitere Intervention in Syrien geschaffen. Dafür wurden alle möglichen Vorwände genutzt, der Absturz oder Abschuß eines türkischen Kampfjets. Flugzeuge, die nach Syrien fliegen, wurden in der Türkei zur Notlandung gezwungen ...

Verfängt das bei der Bevölkerung?

Die Syrien-Politik der Erdogan-Regierung wird von der Mehrheit nicht gut geheißen. Vor allem in den Grenzgebieten ist die Stimmung diesbezüglich ganz klar. Die Menschen dort haben gute Beziehungen zu den Nachbarn in Nordsyrien, teilweise auch verwandtschaftliche. Insbesondere die Bevölkerung in diesen Regionen ist sehr besorgt und gegen einen Krieg. Umfragen zufolge sind selbst 73 Prozent der Wähler der regierenden AKP gegen einen Waffengang.

Teile der Friedensbewegung in Deutschland gerieren sich als interventionistische Linke und unterstützen den bewaffneten Aufstand in Syrien. Wer die westliche Einmischung kritisiert, wird schnell als Unterstützer von Präsident Baschar Al-Assad diffamiert, dessen Sturz sie fordern. Wie geht die Antikriegsbewegung in der Türkei damit um?

Wir sind gegen einen Krieg gegen Syrien. Das heißt nicht, daß wir das Assad-Regime gutheißen. Wir sind aber überzeugt davon, daß die Unterdrückung oppositioneller Kräften nicht mit militärischen oder politischen Operationen von außen beendet werden kann.

Wir haben vor kurzem in Istanbul eine internationale Nahost-Konferenz abgehalten. Auf Einladung des Demokratischen Kongresses der Völker waren auch Gäste aus Syrien gekommen, darunter Vertreter von kurdischen Organisationen und der Kommunistischen Partei Syriens waren eingeladen. Die haben deutlich gemacht, die Einmischung von außen ist keine Lösung, und gefordert, die Bewaffnung der »Freien Syrischen Armee« einzustellen. Wir müssen den Weg des Dialogs gehen.

Der Vertreter der KP Syriens hat erklärt: Die anhaltende Einmischung von außen wird das Problem nicht lösen, da daraus nicht das Ende von Assad, sondern das Ende von Syrien resultiert. Wir haben das doch im Fall des Irak gesehen. Saddam Hussein ist weg – und der Irak zerstört. Die Bevölkerung in Syrien hat Angst davor, daß genau das auch in ihrem Land passiert. Die KP spricht auch nicht von einem Bürgerkrieg in ihrem Land, sondern von Überfällen bewaffneter Banden. Das heißt nicht, daß die Massenproteste gegen die Wirtschaftsmisere und für Reformen nicht berechtigt waren.

Interview: Rüdiger Göbel

* Levent Tüzel (Demokratischer Kongreß der Völker) ist Abgeordneter des türkischen Parlaments

Aus: junge Welt, Freitag, 30. November 2012


»Patriot«-Raketen in die Türkei? – Stimmt mit nein!

Gut 100 Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen fordern in einem Aufruf die Abgeordneten ihrer Partei dazu auf, im Dezember im Bundestag gegen die Entsendung von »Patriot«-Raketen und Bundeswehrsoldaten zu stimmen:

In Kürze wird im Bundestag über die Stationierung von Patriot-Verbänden der Bundeswehr an der syrischen Grenze entschieden. Wir erwarten gerade von den Grünen-Abgeordneten, daß sie ohne wenn und aber dagegen stimmen. (...)

Die »Patriot«-Raketen sollen angeblich die Türkei vor syrischen Angriffen schützen. Der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour stellt das zu Recht in Frage: »Sind die ›Patriot‹ tatsächlich dazu da, das Territorium der Türkei zu schützen? Mit denen kann man in der Tat in Syrien selbst einiges anrichten, aber nicht in der Türkei selbst.« Denn welches Interesse sollte das Assad-Regime daran haben, die Türkei anzugreifen und der NATO so Anlaß und Legitimation für eine Militärintervention zu liefern? Wenn, interveniert die Türkei in Syrien, aber nicht umgekehrt. Insofern markiert die Stationierung der »Patriot«-Raketen den Beginn des eigenen militärischen Eingreifens der NATO in den syrischen Bürgerkrieg. Denn bisher werden die Aufständischen lediglich politisch, logistisch und mit Waffenlieferungen unterstützt. Auch Deutschland hilft den Aufständischen mit Spionageerkenntnissen, die u.a. mittels eines BND-Flottendienstbootes im östlichen Mittelmeer generiert werden.

Die türkische Regierung versucht bereits seit längerer Zeit, eine Pufferzone im Norden Syriens einzurichten. (...) Die Einrichtung der Pufferzone nimmt militärische Eskalationsgefahren in Kauf. Denn diese müßte nicht nur am Boden, sondern auch in der Luft abgesichert werden. Um die Luftherrschaft herzustellen, müßten zum einen Angriffswaffen wie Kampfbomber, Cruise Missiles und andere Raketen etc. eingesetzt werden. Zum anderen gibt eine Absicherung durch Flugabwehrsysteme Sinn. Hier sind die »Patriot«-Raketen einzuordnen. (...)

Nicht nur die Türkei, sondern führende arabische sowie die westlichen Länder treiben seit 2011 den Regime change in Damaskus voran. Nun soll der nächste Eskalationsschritt gemacht und mit eigenen militärischen Mitteln eingegriffen werden. Politische Begleitung ist die Etablierung einer syrischen Gegenregierung, die bereits von mehreren Staaten anerkannt wurde.

Die Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien (nicht unbedingt als Hort der Demokratie bekannt) betreiben eine hegemoniale Regionalpolitik. Sie versuchen, ihren eigenen Einfluß auszuweiten, indem sie Aufständische verschiedener Couleur mit Waffen, Geld und Logistik unterstützen, um so eine ihnen genehme Regierung in Damaskus zu installieren. (...)

Um den grausamen Bürgerkrieg mit inzwischen über 30000 Toten zu beenden, gibt es keinen anderen Weg als die Deeskalationsbemühungen des UN-Vermittlers Brahimi zu unterstützen. (...)

www.gruene-friedensinitiative.de




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