Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wir lassen uns auf keinen Kuhhandel ein"

Die kurdische PKK-Guerilla besteht auf Garantien, bevor sie sich aus der Türkei zurückzieht. Gespräch mit Selahattin Demirtas *


Selahattin Demirtas ist ­Co-Vorsitzender der prokurdischen Partei für Demokratie und Frieden (BDP) und Abgeordneter der Großen Türkischen Nationalversammlung.

Sie waren vor wenigen Tagen in den nordirakischen Kandilbergen, um der PKK-Führung einen Brief Abdullah Öcalans zu übergeben. Wie ist die Stimmung bei der Guerilla?

Sie steht hundertprozentig hinter ihm und setzt sich mit aller Kraft für eine Friedenslösung ein. Allerdings vertraut sie der türkischen Regierungspartei AKP nicht.

Die Guerilla verlangt Sicherheitsgarantien für einen Rückzug aus der Türkei, doch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fordert statt dessen eine Abgabe der Waffen als Voraussetzung für sicheres Geleit. Haben wir es hier mit einer Blockade des Friedensprozesses zu tun?

Natürlich kann die kurdische Frage nicht innerhalb weniger Monate gelöst werden. Aber es geht darum, sie aus der Logik des bewaffneten Kampfes zu lösen, wie es Öcalan in seinem Newroz-Aufruf gefordert hat. Wir haben es hier nicht wirklich mit einer Stagnation zu tun, aber es gibt ein Problem an dieser Stelle, denn ohne einen gesetzlichen Rahmen kann sich die Guerilla nicht zurückziehen. Es wurde ein Weisenrat gebildet und das Parlament hat eine Kommission zur Überwachung des Prozesses beschlossen. Das reicht nicht aus, ist aber schon eine gewisse Absicherung. Ich bin zuversichtlich, daß wir dieses Problem schon in Kürze überwunden haben.

Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) und die faschistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) boykottieren die neugeschaffene Kommission. Schwächt das nicht den Friedensprozeß?

Über die Hälfte der Wähler von MHP und CHP sind für den Friedensprozeß, und diese gesellschaftliche Unterstützung ist für uns entscheidend. Niemand hat ein Monopol auf Frieden, doch wenn dieser Prozeß Erfolg hat, werden sich diese Parteien vor der Bevölkerung rechtfertigen müssen. Daher beten sie jetzt für ein Scheitern.

In der Presse wird spekuliert, daß die BDP im Gegenzug für mehr Rechte für die Kurden in der Verfassungsdebatte das von der AKP geplante Präsidialsystem unterstützten könnte?

Wir lassen uns nicht auf so einen billigen Kuhhandel ein. Allerdings sind wir nicht prinzipiell gegen ein Präsidialsystem. Wir lehnen es aber in der von der AKP vorgeschlagenen Form ab. Wir können nicht akzeptieren, daß ein Präsident alle Kompetenzen auf sich vereint – einschließlich dem Recht zur Auflösung des Parlaments. Doch wenn es ein starkes Parlament und eine starke kommunale Ebene und eine unabhängige Justiz gibt, können wir auch über ein Präsidialsystem sprechen. Die AKP hat versprochen, bei einem Abzug der Guerilla die demokratischen Rechte auszuweiten. Ob das wirklich passiert, hängt aber nicht von der AKP, sondern von uns ab. Es geht nicht darum, auf die AKP zu hoffen, sondern in unsere Kraft zu vertrauen.

Öcalan hat in seiner Newroz-Erklärung das jahrtausendelange Zusammenleben von Türken und Kurden unter dem Banner des Islam betont. Seitdem gibt es unter Aleviten die Sorge, daß die kurdische Seite islamischen Kräften zu große Zugeständnisse machen könnte.

Das sind unbegründete Befürchtungen. Unter einer Ausweitung der laizistischen Demokratie verstehen wir rechtliche Garantien für alle Glaubensgemeinschaften und die Anerkennung aller Gebetshäuser, nicht nur wie bislang der Moscheen. Ein Teil unseres Kampfes galt immer den Rechten der Aleviten, die besonders unterdrückt werden. Doch wir denken, daß auch die Sunniten unterdrückt werden, da der Islam in der Türkei unter Staatskontrolle praktiziert wird. Wir wollen den Islam von einer Staatsreligion wieder zu einem Volksglauben machen. Daher fordern wir die Auflösung des Amtes für religiöse Angelegenheiten (DIANET).

Sie gelten zur Zeit als der bekannteste Briefträger der Türkei – sie transportieren Briefe zwischen Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer und der PKK-Führung in den Kandilbergen. Kann der Dialog so weiter gehen?

In der jetzigen Phase ist es notwendig, daß Öcalan in direkten Kontakt mit der PKK treten kann. Später, wenn es um die Ausarbeitung von Verfassungsgarantien geht, sind wir als BDP am Zug.

Interview: Nick Brauns

* Aus: junge Welt, 16. April 2013


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage