Friedensruf aus der Zelle
PKK-Vorsitzender Öcalan will Rückzug der kurdischen Guerilla und »Neubeginn«. Millionen Menschen auf Newroz-Fest im südosttürkischen Diyarbakir
Von Nick Brauns *
Die Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sollen sich aus der Türkei zurückziehen. Dazu rief der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan am Donnerstag in einer anläßlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz vor Millionen Menschen in Diyarbakir verlesenen Botschaft auf. »Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Waffen schweigen und die Ideen sprechen. Es ist an der Zeit für unsere bewaffneten Kräfte, sich zurückzuziehen. Das ist nicht das Ende, sondern ein Neubeginn«, heißt es in der in türkischer und kurdischer Sprache von Abgeordneten der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) verlesenen Botschaft. Nach dem bewaffneten Kampf sei nun die Tür für einen demokratischen Prozeß geöffnet. Der Kampf der PKK habe sich nie gegen ein anderes Volk gerichtet, sondern gegen Unrecht, Reaktion und Ausbeutung, erklärte Öcalan und rief zum Zusammenleben von Türken und Kurden auf der Grundlage von Freiheit und Gleichheit auf. Bislang hätten die westlichen Großmächte mit ihren Interventionen das Schicksal »Mesopotamiens« bestimmt. Doch »die Völker des Mittleren Ostens und Asiens sind jetzt erwacht und sagen ›nein‹ zu den Kriegen, die gegen sie geführt werden«.
Öcalan machte keine Angaben darüber, ob die türkische Regierung bereits konkrete Zusagen für den Fall eines Rückzugs der Guerilla gegeben habe und wie der weitere Friedensprozeß verlaufen soll. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete Öcalans Aufruf am Donnerstag als »positive Entwicklung«. Seit Ende 2012 laufen Gespräche zwischen dem seit 14 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftierten PKK-Vorsitzenden und Vertretern der türkischen Regierung. Vorangegangen war im Sommer letzten Jahres die seit den 1990er Jahren stärkste Guerillaoffensive sowie ein von tausenden politischen Gefangenen unterstützter monatelanger Hungerstreik mit der Forderung nach Friedensverhandlungen mit Öcalan.
Über zwei Millionen Menschen hatten sich am Donnerstag nach Angaben der Nachrichtenagentur Dicle zum zentralen Newroz-Fest in der kurdischen Metropole Diyarbakir im Südosten der Türkei versammelt – mehr als jemals zuvor. Viele waren aus anderen Provinzen, in denen in den letzten Tagen bereits Hunderttausende an Newroz-Feiern teilgenommen hatten, angereist. »Wir sind bereit zum Kampf und zu Verhandlungen« hieß es auf großen Bannern über dem Festplatz und »Für eine demokratische Lösung – Freiheit für Öcalan – einen offiziellen Status für die Kurden«. Bilder des PKK-Vorsitzenden, die rot-gelb-grünen Fahnen der PKK sowie die Porträts der drei im Januar in Paris von einem mutmaßlichen Agenten des türkischen Geheimdienstes ermordeten kurdischen Revolutionärinnen waren allgegenwärtig.
Die Menschenmenge begrüßte Öcalans Aufruf mit minutenlangem Jubel. Der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas erklärte die Unterstützung seiner Partei für die Friedensinitiative. Die PKK-Führung in den nordirakischen Kandilbergen hatte zuvor schon in einem Brief an Öcalan ihre Zustimmung gegeben. Nach seiner Gefangennahme 1999 hatte Öcalan bereits einmal die Guerilla zum Verlassen der Türkei aufgerufen. Damals waren rund 500 abziehende Kämpfer von der türkischen Armee getötet worden. Diesmal werde es im Falle eines Rückzugs zu keinen Angriffen kommen, hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vor einigen Wochen zugesagt.
* Aus: junge Welt, Freitag, 22. März 2013
Friedenssignal der PKK?
Interview mit Norman Paech **
Norman Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht in Hamburg.
Abdullah Öcalan, vom türkischen
Staat zu einer lebenslangen
Haftstrafe verurteilter Chef der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK),
hat sich mit einem Friedensaufruf
an diesen gewandt. Wie repräsentativ
ist Öcalan für die Kurden
in der Türkei?
Öcalan ist eine historische Figur
seit 1984, seit der Kampf der Kurden
begann, damals um die Unabhängigkeit.
Insofern ist er auch
weit über den begrenzten Rahmen
der Region bekannt und auch respektiert,
das ist gar keine Frage.
Es hat zumindest in den vergangenen
zwölf Monaten eine Reihe
informeller Gespräche zwischen
der PKK und der türkischen
Regierung gegeben. Was ist Ihnen
darüber bekannt geworden?
Das waren Gespräche in Oslo und
in den USA, auch auf der Insel Imrali,
wo das Gefängnis Öcalans
liegt. Diese Runden wurden ohne
jedes Ergebnis beendet und hatten
seinerzeit keine sehr optimistische
Perspektive. Das hat sich offensichtlich
etwas geändert.
Kürzlich beging Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan zehnjähriges
Jubiläum als Ministerpräsident.
Gab es in seiner Amtszeit
eine kurdisch-türkische Annäherung?
Nach der Regierungsübernahme
durchaus. Bei der Umgestaltung
des Staates, insbesondere seinen
Auseinandersetzungen mit dem
Militär, brauchte er weitere Kreise
der Unterstützung. Da näherte er
sich den Kurden an und machte
ihnen auch Angebote, die allerdings
in dem Maße wieder zurückgenommen
wurden, wie es
ihm gelang, seine Macht zu festigen.
Es ist immer ein Auf und Ab
gewesen. Erdogan hat nie eine
konstante Perspektive für eine politische
Lösung des Kurdenproblems
eröffnet. Auch jetzt ist es außerordentlich
zweifelhaft, ob er
zum Beispiel die Militäroperationen
gegen die PKK, die nach wie
vor auch über die Grenze nach Irak
gehen, jetzt mit einem Waffenstillstand
einstellt.
Warum hat Öcalan seine Botschaft
gerade jetzt veröffentlicht?
Newroz, das Frühlingsfest, ist immer
ein großes Fest nicht nur der
Kurden in der Türkei, sondern
auch der Afghanen oder der Perser.
Er hat es sich offensichtlich
ausgewählt, um einen, vielleicht
den entscheidenden Durchbruch
in den politischen Verhandlungen
zu erzielen. Im Augenblick ist nicht
klar, was von der türkischen Regierung
als Gegenleistung zu diesem
Waffenstillstand angeboten
worden ist. Waffenstillstände haben
wir schon öfter gehabt. Sie
haben sich nie durchsetzen lassen
können. Mal hat das Militär, mal
haben sich manche kurdische
Gruppen nicht daran gehalten haben.
Kann man sagen, dass allein die
Tatsache ein Fortschritt ist, dass
die Botschaft in Diyarbakir, vor
Tausenden Menschen in kurdischer
Sprache vorgetragen werden
konnte?
Das würde ich schon sagen. Auf
jeden Fall zeigt es die große Sehnsucht
der Kurden nach einem nicht
nur friedlichen Leben, sondern
auch auf Demokratisierung, Anerkennung
ihrer kurdischen Identität,
ihres Selbstbestimmungsrechts.
Sie verbinden damit die
große Hoffnung, mit dem türkischen
Volk auf gleicher Augenhöhe
behandelt zu werden. Dieses ist
zweifelsohne eine Botschaft in
Richtung Erdogan. Warten wir
einmal ab, ob er darauf nicht nur
mit Worten, sondern auch mit Taten
antworten wird.
Fragen: Roland Etzel
** Aus: neues deutschland, Freitag, 22. März 2013
Öcalans Offensive
Von Roland Etzel ***
Es war nicht Öcalans erster Appell für einen friedlichen Interessenausgleich zwischen kurdischer und türkischer Bevölkerung in der Türkei, und es war auch nicht sein erstes Angebot, dass die PKK die Waffen niederlegt. Wie immer es ausgeht - es wurde medial beachtet wie nie zuvor. Seit Erdogan die Türkei regiert, gibt es immer wieder informelle Dialogkanäle zwischen beiden Seiten. Allmählich verblasst jene großtürkische Attitüde Ankaras, in deren Verständnis Öcalan nur als Monster vorkam und in der es die Identität eines Staatsbürgers der Türkei als Kurde nicht geben durfte.
Doch vollzieht sich die Annäherung des türkischen Establishments an die Realität - vor allem für die Menschen in Türkisch-Kurdistan, aber auch der kurdischen Diaspora in aller Welt - in unnötig quälender Langsamkeit. Ein vernünftiger Grund dafür ist nicht erkennbar. Die PKK von heute erhebt keinen Anspruch mehr auf Eigenstaatlichkeit. Die Gefahr einer Aufspaltung des türkischen Staates besteht also eher in der weiteren Verfolgung des Kriegskurses gegenüber der PKK als in einem Dialog der Regierung mit ihr. Es gehört nicht viel Phantasie dazu sich vorzustellen, dass der auch wirtschaftlich aufstrebende türkische Staat noch erheblich besser dastünde ohne die faktische Stigmatisierung eines Fünftels der Bevölkerung, ohne Guerilla-Krieg und ohne die permanente Angst vor Terror und Gegenterror.
Berlin könnte einen Beitrag zur Annäherung leisten, indem es die PKK von der Terrorliste streicht.
*** Aus: neues deutschland, Freitag, 22. März 2013 (Kommentar)
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