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Zwischen Dominanz und Pyrrhos-Sieg

Die Türkei ist zur regionalen Großmacht aufgestiegen - und spielt vielleicht auf zu vielen Hochzeiten

Von Knut Mellenthin *

Ob es in Nahost um Gaza, Iran oder Syrien geht - die Türkei hat sich in der Regierungszeit von Ministerpräsident Erdogan (seit 2003) zu einem politischen Faktor entwickelt, an dem keiner vorbeikommt, der in der Region eine Rolle spielen will. Doch die Türkei blickt auch nach Westen - und könnte an dem Spagat zwischen NATO und islamischer Welt scheitern.

Die Konferenz der »Freunde Syriens«, zu der sich vor wenigen Tagen Vertreter von fast 80 Staaten in Istanbul versammelten, kann von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan als Heimsieg verbucht werden. Er hatte schon 2011 damit begonnen, die Türkei als Hinterland eines gewaltsamen Umsturzes im benachbarten Syrien zu positionieren. Bei dem Regimewechsel, auf den USA, EU und arabische Ölmonarchien hinarbeiten, spielt Ankara eine Schlüsselrolle.

Aber es könnte Erdogan mit diesem Erfolg letztlich so gehen wie vor 2300 Jahren dem griechischen König Pyrrhos, der nach einer gewonnenen Schlacht gegen den aufsteigenden römischen Staat ahnungsvoll seufzte: »Noch so ein Sieg - und ich bin verloren.« Denn falls es den in Syrien herrschenden Kräften um Präsident Baschar al-Assad gelingen sollte, der bewaffneten Opposition eine militärische Niederlage beizubringen und zugleich längst überfällige politische und gesellschaftliche Reformen einzuleiten, hätten Erdogan und sein Außenminister Ahmet Davutoglu der Türkei einen Nachbarn zum Feind gemacht, zu dem sie selbst früher gute Beziehungen aufgebaut hatten.

Davutoglu ist zwar erst seit Mai 2009 Chef des türkischen Außenministeriums, war aber schon zuvor ein enger Berater des seit neun Jahren regierenden Erdogan. Die Politik der Türkei gegenüber den Staaten ihrer Umgebung müsse darauf ausgerichtet sein, »keine Probleme« mit irgendeinem von ihnen zu haben, hatte der damals 49-Jährige bei Übernahme des Amtes erklärt. Inzwischen gibt es jedoch kaum noch ein Nachbarland, mit dem Ankara nicht erhebliche Probleme hat. Einige dieser Konflikte sind traditionell und schwer zu lösen, wie der mit Armenien. Andere, wie der mit Israel, sind ein Ergebnis der jüngsten Zeit und widersprechen radikal der früheren türkischen Politik, die auf enger militärischer und geheimdienstlicher Kooperation mit Tel Aviv aufbaute.

Die Beziehungen zwischen beiden Ländern hatten sich schon aufgrund des Gaza-Krieges im Januar 2009 stark verschlechtert. Durch den israelischen Überfall auf das türkische Hilfsschiff »Mavi Marmara« im Mai 2010, bei dem neun Menschen getötet wurden, kühlte sich das Verhältnis weiter ab. Am 2. September gab die türkische Regierung ihre Entscheidung bekannt, die diplomatischen Beziehungen herabzustufen und den israelischen Botschafter auszuweisen. Gleichzeitig suspendierte Ankara alle Vereinbarungen über die militärische Zusammenarbeit beider Staaten. Davutoglu erklärte dazu, dass eine Normalisierung erst nach einer israelischen Entschuldigung für den Zwischenfall mit der »Mavi Marmara« und Zahlung von Entschädigungen an die Angehörigen der Todesopfer möglich sei.

Sieben Monate später sind die türkisch-israelischen Beziehungen immer noch eingefroren. Erdogan hat es aber unterlassen, den Streit zuzuspitzen und seine Drohungen, wie etwa einen bewaffneten Begleitschutz für künftige Hilfskonvois, wahr zu machen. Maßgeblich dafür ist vermutlich in erster Linie der Wunsch nach einem störungsfreien Verhältnis zu den USA. Für die Regierung Barack Obamas ist ein Konflikt zwischen zwei »strategischen Verbündeten«, wie es Israel und die Türkei darstellen, nur auszuhalten, wenn der Streit sich nicht so zuspitzt, dass eine eindeutige Parteinahme unvermeidbar wird. Die fiele nach Lage der Dinge zugunsten Israels aus. Die Pro-Israel-Lobby im US-Kongress hat deutlich gemacht, dass sie zu einer wirkungsvollen Kampagne gegen die Türkei in der Lage ist, falls Erdogan den Konflikt weiter verschärft.

Dass gute Beziehungen zu den USA das Leitprinzip ihrer Politik sind, demonstriert die türkische Regierung auch durch ihre Beteiligung am »Raketenschild«-Projekt der NATO. Seit Anfang des Jahres ist in der Türkei eine Radarstation in Betrieb, die der Früherkennung von Raketenangriffen dienen soll. Ankara setzt sich damit in Gegensatz zu Russland und zu seinem Nachbarn Iran, gegen den sich dieses System erklärtermaßen richten soll. Der Behauptung der türkischen Regierung, es würden keine Daten an Israel weitergegeben, schenkt man in Teheran keinen Glauben, zumal in der Station US-Amerikaner im Einsatz sind.

Die Türkei »kann eine stabilisierende Rolle in der Region spielen und als Vorbild für jene Länder in der Region dienen, die sich derzeit von der Diktatur zur Demokratie entwickeln«, lobte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im September. In der Realität droht Erdogan aber wohl eher die Gefahr, dass er sich mit seinem Versuch, einerseits die Wünsche der westlichen Allianz zu bedienen und andererseits den Volkstribun der islamischen Welt zu spielen, zwischen die Stühle setzt und scheitert.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 7. April 2012


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