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Treibt Ankara doppeltes Spiel?

Mord an drei Kurdinnen in Paris: Unter Verdacht ist auch der türkische Staat

Von Roland Etzel *

In Paris sind in der Nacht zum Donnerstag drei kurdische Aktivistinnen mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet worden. Die französische Polizei hält sich bedeckt, was Hinweise auf die Täter betrifft. Dennoch mangelt es nicht an Schuldzuweisungen.

Am schnellsten war der türkische Regierungssprecher Bülent Arinc. Er sprach schon gestern Mittag laut AFP von einer »außergerichtlichen Hinrichtung «, einer »blutigen Abrechnung« innerhalb der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Da hatte sein Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der nigerischen Hauptstadt Niamey gerade gefordert, die Aufklärung des Verbrechens müsse abgewartet werden.

Fast alle Kommentatoren sind sich einig darin, die grausamen Morde hätten der Welt ins Gedächtnis gerufen, dass neben Irak, Iran und Syrien auch das Kurdenproblem, vor allem in der Türkei, weiterhin zu den großen Krisenherden der Mittelostregion gehört. Die PKK kämpft im anatolischen Osten der Türkei für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden. In den Staaten der EU steht die Partei dafür auf der Terrorliste. Ihr Führer Abdullah Öcalan wurde 1999 vom türkischen Geheimdienst in Kenia gekidnappt, in die Türkei entführt und dort zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

Dessen ungeachtet verhandelt der türkische Staat im Geheimen sowohl mit Öcalan als auch mit in Freiheit befindlichen Emissären der PKK über Bedingungen für ein Ende von deren Guerillakrieg gegen den türkischen Staat. Diese Taktik der Regierung trifft bei großtürkischen Kreisen, die jegliches Zugeständnis an die Kurden ablehnen, auf erbitterten Widerstand. Deshalb wird vermutet, dass die Pariser Morde von Personen aus diesem Umfeld in Auftrag gegeben wurden, um die Geheimgespräche zu torpedieren. Darauf weist zum Beispiel der im Brüsseler Exil ansässige Kurdische Nationalkongress hin. Exekutivratsmitglied Zübeyir Aydar spricht von einem »schmutzigen Spiel und Angriff von dunklen Kräften«.

Noch einen Schritt weiter geht der deutsch-türkische Publizist Murat Cakir. Er sieht eine »Doppelstrategie« des türkischen Ministerpräsidenten. Auf der einen Seite würden »die physischen Vernichtungsversuche mit neuen Methoden fortgeführt«, auf der anderen Seite werde »der türkischen Öffentlichkeit vorgegaukelt, man wolle doch den Frieden und verhandele deshalb mit Öcalan«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Januar 2013


"Es war wie eine Hinrichtung"

Proteste und Spekulationen nach Ermordung von drei kurdischen Aktivistinnen in Paris

Von Ralf Klingsieck, Paris **


Nach dem Mord an drei kurdischen Aktivistinnen in Paris begann die Polizei mit umfangreichen Ermittlungen.

Die Frauen waren in der Nacht zum Donnerstag im »Kurdischen Informationsbüro« in Paris erschossen aufgefunden worden. Den ersten Feststellungen der Polizei nach wurden alle drei durch Schüsse aus einer - vermutlich mit Schalldämpfer versehenen - automatischen Waffe aus nächster Nähe getötet. Zwei starben durch Schüsse in den Nacken, bei der dritten zielte der Täter auf Kopf und Bauch. Nach Angaben von Leon Edart, Sprecher der Vereinigung der Kurdenverbände in Frankreich (FEYKA), handelt es sich bei einer der Frauen um Fidan Dogan, eine 32-jährige Angestellte des Informationsbüros, die auch Vertreterin des Kurdischen Nationalkongresses in Paris war. Eine weitere Tote ist Sakine Cansiz, eine Mitbegründerin der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die seit 20 Jahren als politischer Flüchtling in Frankreich lebte. Die dritte Frau ist Leyla Söylemez, »eine junge kurdische Aktivistin auf der Durchreise«, hieß es. Wie Leon Edart vor Ort den Medien gegenüber präzisierte, hatten nach Mitternacht mehrere Freunde der Frauen, die diese vergebens telefonisch zu erreichen versucht hatten, die Tür zu dem im ersten Stock eines Hauses befindlichen Informationsbüro aufgebrochen und dort die drei Mordopfer vorgefunden.

»Es war wie eine Hinrichtung«, sagte einer der sofort alarmierten Polizisten. Da es sich offenbar um einen politischen Mord handelt, wurden die Ermittlungen der Anti-Terror-Abteilung der Pariser Kriminalpolizei übertragen. Innenminister Manuel Valls begab sich am Donnerstagmorgen an den Tatort in der Pariser Lafayette-Straße, wo sich vor dem Kurdischen Informationsbüro bereits Hunderte Kurden zu einer spontanen Demonstration zusammengefunden hatten. In Sprechchören beschuldigten sie die Regierung und die Sicherheitskräfte der Türkei, hinter dem Mord zu stecken. Innenminister Valls sprach den Medien gegenüber von »unerträglichen Morden«. Solche »schwerwiegenden Taten« seien »inakzeptabel« und es werde alles getan, um die Täter und ihre Hintermänner ausfindig zu machen.

Zu den möglichen Motiven der blutigen Tat wollte sich der Minister unter Hinweis auf die gerade erst beginnenden Ermittlungen noch nicht äußern. Dagegen gibt es für die Kurden, die vom Tatort aus ihre Demonstration durch die Straßen von Paris fortsetzten, keinen Zweifel. »Für uns sind sie nicht tot« und »Wir stehen alle zur PKK« riefen sie im Chor, aber auch »Die Türkei ist der Mörder, Hollande ist Komplize«. Das zielt darauf, dass die von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestufte PKK von der französischen Polizei verfolgt und ihre Aktivisten der Erpressung von »Revolutionssteuern« bei ihren Landsleuten bezichtigt werden.

Für die demonstrierenden Kurden wie für die meisten politische Beobachter in Paris handelt es sich bei den Hintermännern des dreifachen Mordes wahrscheinlich um reaktionäre Kräfte in der türkischen Regierung und den Sicherheitskräften, die die erst kürzlich angebahnten Verhandlungen mit dem seit Jahren inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan über eine Beendigung des bewaffneten Widerstands der PKK gegen die Unterdrückung der Kurden in der Türkei und über eine Normalisierung der Lage der Minderheit um jeden Preis torpedieren wollen. Doch von diesen Motiven will die türkische Regierung ablenken und ihre Sprecher haben am Donnerstag erklärt, es handele sich wohl um eine »PKK-interne Abrechnung« von radikalen Kräften innerhalb der Gruppe, die gegen Verhandlungen mit der Regierung sind.

In Frankreich leben schätzungsweise 150 000 Kurden, die große Mehrheit von ihnen stammt aus der Türkei. Hinzu kommen iranische und irakische Kurden sowie Kurden aus Syrien, Libanon und aus Ex-Sowjetrepubliken.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. Januar 2013


Ankaras Doppelstrategie

Von Murat Cakir ***

In der kurdischen Frage droht eine neue Ära der Eskalation. In Paris sind die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansiz, die Vertreterin des Kurdischen Nationalkongresses, Fidan Dogan, und die kurdische Aktivistin Leyla Sönmez erschossen worden. Die Umstände der Tat machen deutlich, daß dies von langer Hand geplante Morde waren. Warum? Es ist ausgeschlossen, daß im Herzen Europas, wo kurdische Institutionen und Persönlichkeiten von diversen Geheimdiensten nahezu 24 Stunden unter Beobachtung stehen, ein solches Verbrechen ohne deren Kenntnis passieren kann. Die Regierungen in der EU, allen voran die französische, müssen alles daran setzen, diese Tat so schnell wie möglich aufzuklären. Ansonsten werden sie sich den Vorwurf der Mittäterschaft gefallen lassen müssen.

Als erstes ist zu fragen: »Cui bono?«, wem nutzt es? Hinter den Morden in Paris dürfte eine Doppelstrategie des »AKP-Staates« stehen. Mit den extralegalen Hinrichtungen wurde Abdullah Öcalan und der PKK ein direktes Signal gegeben. Erst kürzlich hatte der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan erklärt: »Wir werden euch überall dort finden, wo ihr auch seid.« Zwei Tage später wurden in Lice, nahe Diyarbakir, zehn kurdische Guerillamitglieder getötet. Und nun die drei Frauen in Paris.

Ankaras Doppelstrategie beinhaltet, daß die physischen Vernichtungsversuche mit neuen Methoden fortgeführt werden. Gleichzeitig wird der türkischen Öffentlichkeit vorgegaukelt, »man wolle doch den Frieden und verhandele deshalb mit Öcalan«. Gleichzeitig wird mit taktischen Mitteln darauf hingearbeitet, die kurdische Bewegung zu spalten.

Grundlage der Doppelstrategie ist die militarisierte und auf regionalimperialistische Ziele orientierte neue Außenpolitik der Türkei. Die Investitionen des erstarkten türkischen Kapitals, Ansprüche, einen großen Teil bei der Neuordnung des Nahen Ostens abzubekommen und die Strategien der NATO benötigen ein Vorgehen, mit dem im inneren die starke kurdische Opposition marginalisiert und die türkisch-sunnitische Mehrheitsbevölkerung mit islamisch-nationalistischen Reverenzen für die neue Außenpolitik gewonnen wird.

Es wird von den demokratischen Kräften der Türkei, allen voran von den legalen wie illegalen Teilen der kurdischen Bewegung und deren nüchternem Bestehen auf einer tatsächlichen Demokratisierung des Landes abhängen, ob eine neue Eskalation gestoppt werden kann. Die europäische Linke ist gefordert, auf die Bühne zu treten und sich noch stärker als bisher für die Freilassung Öcalans einzusetzen – mit dem Ziel, die Bedingungen für die Befriedung des kurdisch-türkischen Konflikts zu verbessern. Wegducken gilt nicht.

*** Murat Cakir ist Geschäftsführer der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen und hat mehrfach über über »Neo-osmanische Träume« der Türkei publiziert

Aus: junge Welt, Freitag, 11. Januar 2013 (Gastkommentar)


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