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Ankaras neues Selbstbewusstsein

Türkische Regierung strebt nach Mittlerrolle zwischen Okzident und Orient

Von Jan Keetman, Istanbul *

Nach dem israelischen Angriff auf ein mit Türken besetztes Hilfsschiff für den Gazastreifen will jetzt UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zwischen beiden Ländern vermitteln. Der türkische Außenminister Davutoglu forderte Israel auf, einer internationalen Untersuchungskommission zuzustimmen. Sonst werde es keine Normalisierung der Beziehungen geben.

Es ist noch kein Jahrzehnt her, da verfolgte die Türkei eine etwas langweilige, gut überschaubare Außenpolitik. Die NATO-Mitgliedschaft stand für die Ausrichtung nach Westen. Gute Beziehungen zu Israel sollten den Wert des Landes für die USA steigern. Die Militärs kauften gerne israelische Waffen, während die technisch noch rückständige Türkei nur langsam eine eigene Rüstungsindustrie aufbauen konnte. Die besonderen Beziehungen zu Israel hatten jedoch immer etwas von einer Vernunftehe, emotional stand die türkische Öffentlichkeit auf Seiten der Palästinenser.

Eine neue Phase begann mit dem Wahlsieg der gemäßigt islamischen AK-Partei von Recep Tayyip Erdogan am 3. November 2002. Zunächst wandte sich Erdogan entschiedener als alle seine Vorgänger Westeuropa zu. Das hatte sicher viel mit Pragmatismus zu tun. Die von der EU geforderten Reformen schwächten langfristig die Rolle des Militärs und der laizistischen Eliten, die Erdogan am liebsten auf den Mond geschossen hätten. Außerdem gewann er so Vertrauen, nicht zuletzt bei Investoren. Zusammen mit einer geschickten Privatisierungspolitik sorgte dies für einen Zustrom von Investitionen, der zeitweise um das Zwanzigfache über dem Durchschnitt früherer Jahre lag.

Der Höhepunkt der Europapolitik war die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Inzwischen aber machen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy aus ihrer Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft der Türkei keinen Hehl. Auch manche Hoffnung, die Erdogan bezüglich der türkischen Innenpolitik in europäische Gremien gesetzt hatte, erfüllte sich nicht. Erdogan hatte erwartet, der Europäische Gerichtshof werde sich aus Gründen der Religionsfreiheit gegen den Kopftuchbann an türkischen Universitäten aussprechen. Doch das Gericht entschied anders.

Zugleich setzte eine Phase neuer Ideen über die Rolle der Türkei in der Welt ein. Ein kleiner Professor mit einer dicken Brille gewann immer mehr Einfluss auf die türkische Außenpolitik, der heutige Außenminister Ahmet Davutoglu.

Davutoglu wollte der türkischen Politik strategische Tiefe geben. Das Land sollte gute Beziehungen nach Westen und ebenso nach Osten unterhalten. Je besser das Verhältnis zu der einen Seite sein sei, um so interessanter würde das Land auch für die andere. So könnte die Türkei auch zwischen Iran und den USA vermitteln ebenso wie zwischen den Arabern und Israel.

Das Konzept ist sicherlich genial, doch es birgt eine Gefahr auf die einige türkische Kommentatoren schon früh hingewiesen haben, nämlich bei dem Seiltanz zwischen antagonistischen Mächten eines Tages nach einer Seite abzustürzen.

Um vermittelnd tätig sein zu können, müsste die Türkei eine gewisse Neutralität wahren. Diese ist ihr im Konflikt mit Israel abhanden gekommen. Der entschiedene Einsatz Erdogans für die Palästinenser hat sein Ansehen bei einem großen Teil seiner Unterstützer im Inland gehoben, ebenso wie das Ansehen der Türkei in den anderen islamischen Ländern. Doch damit wurden auch Erwartungen erfüllt, die die Türkei kaum einlösen kann. Ein Dauerkonflikt mit Israel würde das Verhältnis zu den USA verschlechtern.

Mit der Öffnung nach Osten waren für die Regierung Erdogan auch große ökonomische Hoffnungen verbunden. Die ölreichen Nachbarn sollten statt im Westen in der Türkei investieren.

Auf der anderen Seite ist Westeuropa für die türkische Wirtschaft noch immer viel wichtiger als der Mittlere Osten. Das hat die Eurokrise gerade wieder gezeigt. Der fallende Kurs der Gemeinschaftswährung riss die Türkische Lira prompt nach unten.

Die politischen und wirtschaftlichen Erfolge der Türkei in den letzten Jahren mögen hier zu einer Selbstüberschätzung geführt haben. Hat sich die Türkei früher sehr versteckt, so versucht sie nun, eine weltpolitische Rolle zu spielen, der sie möglicherweise nicht gewachsen ist. Denn die Türkei hat keine Ölreserven, und ihre Wirtschaftsleistung beträgt nur ein Fünftel derjenigen Deutschlands.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juni 2010


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