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"Roadmap faßt zusammen, was Kurden wollen"

DTP beschließt Programm für den Frieden und fordert Verfassungsänderung in der Türkei. Ein Gespräch mit Selma Irmak

Selma Irmak ist stellvertretende Vorsitzende der prokurdischen »Partei der demokratischen Gesellschaft« (DTP)



Ihre Partei will heute (8. November) eine »Roadmap für den Frieden« beschließen. Was ist darunter zu verstehen?

Die türkische Republik feierte kürzlich ihren 84. Gründungstag. In diesen 84 Jahren ist es trotz mancher Bemühungen nicht geglückt, das Land zu demokratisieren. Darin hat das sogenannte Kurdenproblem, wie viele andere Probleme der Türkei auch, seine Ursache. Ausgehend von dieser Grundüberlegung wollen wir der Öffentlichkeit ein Programm vorstellen, mit dem der Demokratisierungsprozeß entschieden vorangetrieben werden kann und so das Minderheitenproblem gelöst wird. Die Oligarchie in der Türkei suggeriert, daß es nur eine gewaltsame Lösung der Kurdenfrage geben könne. Unsere Roadmap ist ein Gegenentwurf, ein alternativer und vor allem ein friedlicher Lösungsansatz.

Was sieht der Plan denn vor?

Die Türkei ist ein multikulturelles, ein multiethnisches Land - ein Mosaik. Die Roadmap trägt diesem Umstand, dessen Anerkennung eine Grundvoraussetzung für den Frieden ist, Rechnung. Es ist erwiesen, daß ein zentralistisches politisches System für Länder mit einer heterogenen Bevölkerung nicht geeignet ist. Unser Ansatz sieht deshalb vor, daß der türkische Zentralstaat alle Kompetenzen außer Verteidigung, Außenpolitik und Finanzen an die einzelnen Regionen des Landes delegiert. Regionalparlamente werden gegründet, und die Regionen verwalten sich in den Bereichen, die nicht zu den oben umrissenen Kompetenzen der Regierung in Ankara gehören, weitgehend selbst. Mit anderen Worten: Ein stärker dezentrales politisches System soll den jetzigen rigiden Zentralismus ersetzen.

Ihr Vorschlag bringt auch weitreichende Verfassungsänderungen in die Diskussion.

Die Verfassung muß honorieren, daß in der Türkei eben nicht nur ethnische Türken leben, sondern auch Angehörige zahlreicher nichttürkischer Minderheiten. Ein Beispiel ist die Definition der Staatsangehörigkeit. Bislang ist in der Verfassung von »türkischen Staatsangehörigen« die Rede. Statt dessen müßte es ethnisch neutral »Staatsangehörige der Türkei« heißen.

Die öffentliche Debatte ist vom bevorstehenden Militärschlag im Nordirak geprägt, niemand will über friedliche Lösungsansätze reden. Ist der Zeitpunkt für die Roadmap glücklich gewählt?

Das ist ja kein Dokument, das nur für den Augenblick gemacht ist. Die Roadmap faßt zusammen, was die Kurden wollen. Seit 1991 haben wir und unsere verbotenen Vorgängerparteien immer wieder punktuelle Lösungsansätze für die Kurdenfrage präsentiert - aber diese sind nie in ein rundes Konzept gegossen worden.

Das Kurdenproblem ist kein Terrorproblem, sondern das Kurdenproblem ist primär ein Problem des herrschenden politischen Systems. Und es kann nur durch Änderungen gelöst werden, die an diesem System vorgenommen werden. Unsere Roadmap bündelt die Ansätze, die es von kurdischer Seite diesbezüglich in den vergangenen Jahren gegeben hat. Und noch ein Aspekt ist wichtig: Bei dem Papier handelt es sich nicht nur um Vorschläge unserer Partei, sondern es ist ein Friedensprogramm der kurdischen Gesellschaft insgesamt. An der Ausarbeitung waren mehr als 500 Volksdelegierte beteiligt, die in den einzelnen Regierungsbezirken gewählt worden sind - und die keineswegs alle Angehörige der DTP waren. Die einzelnen Religionsgruppen, Arbeiter, Bauern, Frauenrechtlerinnen, Nichtregierungsorganisationen und noch viele andere gesellschaftliche Gruppierungen waren vertreten.

Teile der türkischen Presse bezeichneten die Roadmap als »Projekt zur Spaltung des Landes«.

Das hat uns nicht überrascht, wir kennen ja die Haltung weiter Teile der türkischen Presse in der Kurdenfrage. Egal wie oft wir betonen, daß wir eine friedliche Lösung innerhalb der türkischen Landesgrenzen suchen - am Ende werden wir doch immer als Bedrohung der Einheit des Landes präsentiert.
Es ist bezeichnend, daß die Regierungspartei AKP vor vier Jahren im Rahmen eines regionalen Projektes einen ganz ähnlichen Reformplan für mehr Föderalismus ins Spiel gebracht hat. Zu einem hysterischen Aufschrei hat das damals nicht geführt. Aber wenn wir so etwas machen, dann heißt es sofort: Die Kurden wollen das Land spalten.

Interview: Nico Sandfuchs, Ankara

* Aus: junge Welt, 8. November 2007


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