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Kurden erzürnen türkische Nationalisten

Erdogan findet Forderung nach kurdischem Unterricht und nach Autonomie "rassistisch"

Von Jan Keetman, Istanbul *

Zum Jahresende ist die politische Szene in der Türkei in Aufruhr. Die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) hat sich erdreistet, die Sprachenfrage auf die Tagesordnung zu setzen. Sie fordert Unterricht in Kurdisch von der Grundschule bis zur Universität.

Die Sprachenfrage hat zu einer seltenen Allianz zwischen der gemäßigt islamischen Regierung unter Recep Tayyip Erdogan und dem Generalstab geführt. Erdogan wirft der BDP Rassismus vor. Die gemeinsame Sprache der Türkei sei nun mal Türkisch. Die BDP schade mit ihrer Forderung der »Brüderlichkeit« und gieße Öl ins Feuer. Eine scharfe Verurteilung der kurdischen Forderungen durch den Nationalen Sicherheitsrat ist zu erwarten. Der Oberstaatsanwalt prüft bereits die Möglichkeit eines Parteiverbots. Zumal sich BDP-Repräsentanten auch die Forderung eines Kongresses in Diyarbakir zu eigen gemacht haben, die Türkei in einen Bundesstaat mit 25 autonomen Regionen zu verwandeln.

Im Kreisverband der BDP in Istanbul sieht man sich gerade im Fernsehen an, was der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, zum Thema zu sagen hat. »Unser Brot ist türkisch, unser Wasser ist türkisch«, hebt Bahceli an. Irgendwie kommt er darauf, dass letztlich Erdogan als »Subunternehmer« der USA das Land teilen wolle, indem er Terroristen Zugeständnisse mache. »Aber sie werden die stählerne türkische Faust spüren.« In dem kleinen Raum kommt Heiterkeit auf. Bahceli sagt, was er immer sagt. Bei den Parlamentswahlen im nächsten Juni wird man sehen wie weit er diesmal kommt. Immerhin setzt er Erdogan unter Druck, sich keine Weichheiten gegenüber den Kurden zu erlauben.

Für Cahit Özmaya, den stellvertretenden Kreisvorsitzenden der BDP, ist es die natürlichste Sache von der Welt, dass die Kurden ihre Sprache sprechen wollen. »Wir leben auch hier in Istanbul, wir wollen das Land nicht teilen«, wischt er die Bedenken der Türken vom Tisch. »Aber unsere Kinder sind im Nachteil, weil sie in der Schule zuerst eine fremde Sprache lernen müssen«, klagt Özmaya. Den Vorwurf des Rassismus pariert er, indem er die Unterdrückung der kurdischen Sprache »faschistisch« nennt. Schließlich wolle Erdogan in Deutschland, in England und überall türkische Schulen, aber die Forderung nach kurdischen Schulen könne er nicht ertragen.

Aber Kurden fordern nicht nur gleiche Rechte für ihre Sprache und »demokratische Autonomie«. Die autonomen Regionen sollen auch über »Selbstverteidigungskräfte« verfügen. Ist das noch mit der Einheit des Staates zu vereinbaren? Özmaya entgegnet, dass es sich um zivile Kräfte handeln solle. Wozu sie gebraucht werden, bleibt auch bei Nachfragen unklar. Doch der BDP-Funktionär meint, wenn Erdogan die Vorschläge seiner Partei nicht passten, solle er doch selbst Vorschläge zur Lösung der kurdischen Frage machen.

»Ein Jahrhundert lang hat man geleugnet, dass es eine kurdische Sprache überhaupt gibt«, fährt Özmaya fort. »Man kam sich komisch vor, wenn man Kurdisch sprach. Stellen Sie sich vor, was das auch für ein psychischer Druck war.« Erdogan scheue sich noch immer, das Wort »Kurdisch« in den Mund zu nehmen. »So können Sie die kurdische Frage nicht lösen.«

Es ist ein nasskalter Tag. Auf der Straße ist sofort der Geruch von Kohleöfen zu spüren. Der Sitz der BDP ist ein kleines, altes Gebäude in einem von Abbruch bedrohten Viertel, in dem sich viele Kurden niedergelassen haben. Die Häuser sind eng und in schlechtem Zustand, die Fassaden so bleigrau wie der Himmel, aus dem leichter Nieselregen fällt. Ein Mann geht von Teehaus zu Teehaus, von Laden zu Laden, um eine einzelne Jacke zu verkaufen. Ein Blick auf dieses Viertel reicht um einzusehen, dass die kurdische Frage auch eine soziale ist.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2010


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