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Die Tonart gegenüber den Kurden hat sich verändert

Türkische Regierung zeigt sich um Abbau der Konfrontation bemüht


Giyasettin Sayan ist Mitglied der LINKEN-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses. Er wurde in der Türkei geboren und ist kurdischer Herkunft. Sayan ist flüchtlingspolitischer Sprecher seiner Fraktion und war kürzlich gemeinsam mit anderen Parlamentariern zur Prozessbeobachtung in der im Südosten der Türkei gelegenen kurdischen Stadt Diyarbakir. Mit ihm sprach für das Neue Deutschjland (ND) Roland Etzel.


ND: In der Türkei scheint es derzeit sowohl von Seiten des Staates als auch der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ernsthafte Bemühungen um einen politischen Dialog zu geben. Sie waren kürzlich Prozessbeobachter bei Verfahren gegen kurdische Aktivisten in Diyarbakir. Haben Sie bereits eine veränderte Tonlage bemerkt?

Sayan: Nein. Die 6. Kammer des Strafgerichts hat von Anfang an alles abgelehnt, was die Gefangenen oder ihre Anwältinnen und Anwälte verlangt haben. Irgendwann Mitte des Monats wird es eine Entscheidung geben. Dann wird sich zeigen, wie man mit den 1800 Angeklagten aus fast dem gesamten kurdischen Gebiet verfahren will. Es sind Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Vorsitzende von Vereinen und Menschenrechtsorganisationen, also Repräsentanten des kurdischen Gebietes. Sie sitzen schon bis zu 18 Monate in Haft. Die Anklageschrift ist 7587 Seiten lang.

Worum geht es dabei?

Es geht im Kern darum, ob die Türkische Republik willens ist, etwas von ihrer Herrschaft aufzugeben, also Demokratie und Macht zu teilen. Darf die Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) legal agieren? Gibt es für kurdische Schüler die Möglichkeit, in ihrer Muttersprache zu lernen? Dürfen sich die Kurden selbst verwalten? Die KCK ist eine Organisation der Selbstverwaltung kurdischer Kommunen. Zu ihr gehören Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, Stadträtinnen und Stadträte, ganze Kommunen.

Wie lautet der Anklagevorwurf?

Separatismus, Nähe zur PKK, Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation usw. Aber die KCK besteht aus legal handelnden Menschen, die versuchen, das Alltagsleben zu organisieren, mit Volksvertretungen und ähnlichem. Sie wollen gestalten: ökonomisch, sozial, auch juristisch.

Haben Sie mit kurdischen Aktivisten sprechen können? Wie bewerten sie die Lage?

Ich habe mit Angeklagten gesprochen, denn ein kleiner Teil von ihnen ist aus gesundheitlichen Gründen auf freiem Fuß, zum Beispiel sechs Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Sie sagen, der Staat ist in den kurdischen Gebieten nur durch Armee und Sicherheitskräfte vertreten. Wir müssen aber unser Leben hier gestalten, organisieren, wir müssen die Leute schützen, wir müssen soziale Probleme lösen. Die geltenden Bestimmungen kriminalisieren das jedoch. In Baglar, einem Stadtteil von Diyarbakir, zum Beispiel gab es ein Treffen von Bürgermeistern. Das gilt als verbotene Sache und wurde deshalb in die Anklageschrift aufgenommen. Telefonate und ganze Sitzungen wurden dafür abgehört. Derartige Zusammenkünfte sind völlig zivile Aktivitäten, werden aber als gesetzwidriges Wirken der PKK dargestellt.

Sehen Sie bei Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan jetzt ernsthaftere Bemühungen als bisher, mit legitimen Vertretern der Kurden zu verhandeln?

Ja, ich denke schon. Es gab sehr viele Gespräche zwischen der Partei des Friedens und der Demokratie (BDP), also der kurdischen Partei im Parlament, und der Regierungspartei AKP. Auch mit Öcalan wurde geredet. Darüber spricht man inzwischen ziemlich offen. Die Regierung zeigt sich bemüht, den repressiven Staatsapparat der Vergangenheit zu reformieren. Sie will sich damit meines Erachtens in Richtung EU entwickeln, aber auch der drohenden Gefahr von Bürgerkrieg entgegenwirken, die in den letzten Jahren überall in den türkischen Städten zu spüren war. Das wird nicht nur in Ankara als Problem betrachtet, sondern auch von den wichtigsten Partnern der Türkei wie der EU und den USA. Von dort rät man der Regierung zu Reformen und dazu, die Kurden einzubeziehen, sogar Öcalan. Ich denke, dass ein Prozess der Veränderung im Gange ist.

Sie haben Abdullah Öcalan schön erwähnt. Ist der frühere, zu lebenslanger Haft verurteilte PKK-Chef tatsächlich in Verhandlungen kurdischer Vertreter mit der Regierung Erdogan einbezogen?

Ja. Das schreiben die Zeitungen, das sagen der Regierungschef und Öcalan selbst durch seine Anwälte.

Ist es der Wunsch nach einem Beitritt zur EU, der bewirkt hat, dass die Türkei nicht mehr diesen kompromisslosen Kurs gegenüber den Kurden verfolgt?

Ich denke, es ist vor allem eine Reaktion auf die drohende innenpolitische Konfrontation in der Türkei selbst. Mit dem gegenwärtigen ökonomischen Aufschwung der Türkei vertragen sich bürgerkriegsähnliche Zustände einfach nicht.

Was sagen Sie dazu, dass die Urheberschaft für den Anschlag vom 31. Oktober in Istanbul auf einen PKK-Kämpfer zurückgehen soll? Halten Sie das für glaubwürdig?

Nein. Es gibt viele Menschen, die bei der PKK aktiv waren und sich später von ihr getrennt haben. Wahrscheinlich gehörte dazu auch der Attentäter. Die PKK und andere kurdische Parteien haben den Anschlag sehr bedauert.

Wer führt denn die PKK im Moment? Öcalan ist im Gefängnis.

Ich denke, dass die PKK vom irakischen Teil Kurdistans aus geführt wird, wo sie ihre bewaffneten Kräfte hat. Aber natürlich hören diese auch auf ihren Führer im Gefängnis. Und deswegen schicken sie auch Leute zu ihm. Auch eine Abgeordnete der BDP besuchte ihn neulich, um seine Meinung über den von der PKK verkündeten Waffenstillstand zu erfahren.

Und der türkische Staat duldet diese Kontakte, ist vielleicht sogar daran interessiert?

Ja, die jetzige Regierung zeigt sich daran interessiert. Sie erlaubt die Besuche, weil sie mit Abdullah Öcalan eine Art friedliche Koexistenz anstrebt. Sonst dürfen ihn nämlich nur die Verwandten besuchen.

* Aus: Neues Deutschland, 11. November 2010


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