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Ein Mega-Programm für Vertriebene

Bürgermeister von Diyarbakir: "Wir verstehen uns als Diener des Volkes"

Der Jurist Osman Baydemir ist seit fünf Jahren Bürgermeister der größten kurdischen Stadt Diyarbakir. Vorher arbeitete er als Anwalt beim türkischen Menschenrechtsverein IHD. Über die Situation in den kurdischen Gebieten und die Repressionen der türkischen Staatsmacht sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Birgit Gärtner.



ND: Die kurdische Partei DTP konnte bei den Wahlen in der Türkei am 29. März 2009 große Erfolge verbuchen. Wie schätzen Sie die politische Bedeutung des Ergebnisses ein?

Baydemir: Wir sind an einem Wendepunkt zu Frieden und Demokratie, das hat das Wahlergebnis ganz eindeutig gezeigt.

Das sieht die türkische Regierung offensichtlich anders, sie reagierte darauf mit einer Verhaftungswelle großen Ausmaßes. Bedeutet der vermeintliche Fortschritt nicht vielmehr einen Rückschritt in die Hochzeit der Repression?

Es ist richtig, 400 Aktivisten unserer Partei wurden nach den Wahlen festgenommen. Trotzdem ist das Wahlergebnis ein eindeutiges Votum der Kurdinnen und Kurden für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Die wiederum ist die Voraussetzung für die Lösung der enormen wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht nur Kurdistans, sondern der gesamten Türkei. Das Parlament muss allerdings die Ergebnisse dieser Wahl richtig deuten und entsprechend umsetzen.

Sind Sie selbst von der Repression betroffen?

Es gibt unzählige Verfahren gegen mich. Seit 1995 arbeite ich als Jurist. In dieser Zeit wurden etwa dreimal mehr Verfahren gegen mich eröffnet, als ich selbst vor Gericht geführt habe. So alt kann ich gar nicht werden, dass ich die geforderte Haftzeit jemals absitzen könnte: Insgesamt werden 283 Jahre Haft für mich gefordert.

Was haben Sie »verbrochen«?

In etwa zwei Dritteln der Verfahren gegen mich geht es um den Gebrauch der kurdischen Sprache. Das ist immer noch ein großes Vergehen in der Türkei. So wurden beispielsweise in einem Bezirk in der Provinz Diyarbakir der Bürgermeister seines Amtes enthoben und das Bezirksparlament aufgelöst, weil die Abgeordneten beschlossen hatten, amtliche Schriftstücke auch in kurdischer Sprache herauszugeben.

Sind die ökonomischen und sozialen Probleme in der Westtürkei genauso groß wie in den kurdischen Gebieten?

Nein, es gibt ein deutliches Armutsgefälle. Von den 21 ärmsten Städten der Türkei liegen 18 auf kurdischem Gebiet. Wir brauchen also eine überproportional größere wirtschaftliche Förderung.

Was bedeutet das für Sie als Bürgermeister Diyarbakirs, der größten kurdischen Stadt?

Insgesamt 70 Prozent der Bewohner unserer Stadt haben meine Partei, die DTP, gewählt. Es ist nicht einfach, diesem Vertrauen gerecht zu werden. Aber wir verstehen uns nicht als Autorität, sondern als Diener des Volkes. Das ist ein völlig neues Politikverständnis.

Für Diyarbakir haben wir ein soziales Programm entwickelt, um benachteiligten Menschen Hilfestellung zu geben. Dieses Programm enthält verschiedene Maßnahmen, durch die unterschiedliche Gruppen, zum Beispiel die durch den Krieg aus ihren Dörfern Vertriebenen, unterstützt werden sollen. So haben wir ein Programm zur Ausbildung in 13 Berufen entwickelt – mit einer Übernahmegarantie für alle Absolventen. Im nächsten Jahr werden wir 1000 Kindern Ferien ermöglichen. Ein Frauenhaus wurde eröffnet, und für alle Behinderten in unserer Stadt wurde ein kostenloser Fahrdienst eingerichtet, den sie jederzeit beanspruchen können. Für uns ist das ein Mega-Programm. Nicht weil die einzelnen Maßnahmen so sensationell wären, sondern weil es so etwas noch nie gab. Niemand hat in der Vergangenheit Geld für die Vertriebenen ausgegeben.

Kürzlich wurde bekannt, dass die Regierungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz keinen Staatskredit für den Bau des Staudamms in Hasankeyf gewähren werden. Ist das Projekt damit vom Tisch oder wird die türkische Regierung nach anderen Finanziers suchen?

Das kann ich nicht sagen. Aber die türkische Regierung wäre sehr gut beraten, wenn sie auf das Projekt verzichtete. Nicht wegen der geplatzten Finanzierung, sondern weil mit der Überflutung Hasan-keyfs, einer der ältesten erhaltenen Städte der Welt, 12 000 Jahre Menschheitsgeschichte ausgelöscht würden.

Die Türkei wäre durchaus in der Lage, ihren immensen Energiebedarf auch ohne Staudammprojekte zu decken. Die finanziellen Mittel könnten genauso gut in die Entwicklung alternativer Energien investiert werden. Auf diesem Gebiet ist Diyarbakir übrigens Vorreiter, bei uns wurde das erste Solarhaus gebaut, das seinen Energiebedarf ausschließlich aus Sonnenergie deckt. Über dieses Haus ist in den Medien weltweit mehr als eine Million Mal berichtet worden. Jetzt bauen wir ein Solardorf. Und was in Diyarbakir möglich ist, sollte auch im Rest des Landes realisierbar sein.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Juli 2009


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