45 x 15 Euro wegen Propaganda
Wer die Türkei kritisiert, kann verurteilt werden
Von Martin Dolzer *
In Berlin wurde ein junger Mann verurteilt,
weil er auf Menschenrechtsverletzungen
in der Türkei aufmerksam
gemacht hatte.
Vergangene Woche stand in Berlin
ein junger Mann vor Gericht. Er
hatte auf der Newroz-Demonstration
im März diesen Jahres in Berlin
in einer Rede über die Menschenrechtsverletzungen
in der
Türkei auch Forderungen und Parolen
der kurdischen Bevölkerung
zitiert. Darauf hin klagte ihn die
Staatsanwaltschaft vor dem
Staatsschutzsenat des Landgerichts
Berlin wegen eines vermeintlichen
Verstoßes gegen das
Vereinsgesetz an.
»Es handelt sich bei diesem
Verfahren um den Versuch der
Einschränkung des im Grundgesetz
verankerten Rechts auf freie
Meinungsäußerung. Die Vorwürfe
gegen mich stehen symptomatisch
für den Umgang der europäischen
und insbesondere der deutschen
Öffentlichkeit mit der kurdischen
Frage. Ich bin angeklagt, weil ich
darüber berichtet habe, was derzeit
in den kurdischen Gebieten in
der Türkei geschieht«, so der Beschuldigte
Michael K., der Mitte
zwanzig ist.
Newroz ist das kurdische Neujahrsfest.
Es wird jedes Jahr um
den 21. März herum gefeiert und
ist das Symbol von jahrhundertelangem
Widerstand gegen feudale
und koloniale Unterdrückung und
Ausbeutung. Beim diesjährigen
Fest provozierte die türkische Regierung
durch ein Verbot ganz bewusst
Auseinandersetzungen. Die
Polizei setzte in mehreren Städten
Tränengasgranaten ein und schoss
scharf. In Istanbul wurde ein 54
jähriger Politiker der pro kurdischen
Demokratischen Friedenspartei
BDP durch eine Tränengasgranate
getötet. Es ist der 12. Fall
dieser Art in den letzten drei Jahren.
In weiteren Städten wurden
Parteigebäude der BDP gestürmt
und Menschen misshandelt. Dem
Vorsitzenden der BDP in der Stadt
Cizre wurde mit einem Gewehrkolben
das Gesicht zertrümmert.
Die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete
der LINKEN Cansu Özdemir,
die sich in der Stadt Batman
in einem Bus mit dem Grandseigneur
der kurdischen Politik Ahmet
Turk befand, wurde mit Tränengasgranaten
und scharfer Munition
beschossen. In der kurdischen
Metropole versammelten sich trotz
der Übergriffe der Polizei gut eine
Million Menschen. Sie hatten auf
dem Festplatz immer wieder die
Parole »Die PKK ist das Volk – und
das Volk ist hier«, gerufen.
Michael K. hatte auf der Demonstration
in Berlin diese Situation
beschrieben und die Parole
zitiert. Das Gericht befand Michael
K. für schuldig und verhängte eine
Strafe von 45 Tagessätzen à 15
Euro. Man dürfe zwar die Situation
in der Türkei beschreiben, jedoch
nicht die Bevölkerung zitieren. Parolen
wären ähnlich wie ein Symbol
der PKK zu werten und diese
fielen unter das Verbot gemäß
Vereingesetz, so die Richterin in
der Begründung. Der Beschuldigte
wird Rechtsmittel gegen das Urteil
einlegen.
Ähnliche, doch weitaus drakonischere
Verfahren sind in der
Türkei an der Tagesordnung. Mehr
als 8000 Menschen, darunter
sechs Abgeordnete und 33 Bürgermeister
wurden in den letzten
Jahren aufgrund ähnlicher Vorwürfe
inhaftiert.
Inwieweit Anklage und Urteil in
Berlin mit einer Medienkampagne
seitens regierungsnaher Publikationen
in der Türkei gegen mehrere
deutsche Menschenrechtler und
Anwälte zusammenhängen, ist
fraglich. Letzten Sommer hatten
zeitgleich mehrere der Regierungspartei
AKP nahe stehende
Publikationen, Teilnehmer von
Delegationen, die seit Jahren die
Menschenrechtssituation im Auftrag
der Linkspartei beobachten,
beschuldigt, Propaganda für die
PKK zu betreiben, da sie sich öffentlich
zur Situation in der Türkei,
zu Folter und Kriegsverbrechen
sowie den Friedensbemühungen
der kurdischen Seite äußerten.
Dass die Staatsanwaltschaft
und das Gericht in Berlin sich auf
eine solche Weise in den Dienst der
türkischen Regierung stellen und
dafür das Recht auf freie Meinungsäußerung
attackieren, ist als
»Armutszeugnis der Demokratie
zu werten«, kommentiert Harald
Weinberg, Abgeordneter der
Linkspartei im Bundestag.
* Aus: neues deutschland, Montag, 03. September 2012
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