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Krisenfall Türkei

Der Einbruch in Schiffbau, Automobil- und Textilproduktion trifft ein überschuldetes und exportabhängiges Schwellenland. Golfstaaten als große Hoffnung

Von Raoul Rigault *

Die ökonomische Realität und ihre Wahrnehmung in der herrschenden Klasse klaffen in der Türkei derzeit weit auseinander. Um nicht weniger als vier Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vierten Quartal 2008 eingebrochen. Aufs Jahr bezogen bleibt damit nur noch ein Plus von einem Prozent. Für 2009 erwarten Ökonomen gar einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von bis zu einem Zehntel. Der 2002 begonnene Boom mit Wachstumsraten von bis zu 9,4 Prozent ist damit vorbei. Dennoch herrscht laut Marc Landau, dem Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer, in Unternehmerkreisen »eine relative Gelassenheit, weil viele glauben, die Krise werde nicht allzulange dauern«. Auch Cevdet Akcay, Chefökonom der Yapi Kredi Bankasi, ist der Meinung, diese Krise treffe die Türkei weniger hart als andere Volkswirtschaften.

Das sind erstaunliche Ansichten, wenn man berücksichtigt, daß die Türkei mit einem doppelten Defizit zu kämpfen hat und in hohem Maße von der Schiffbau-, Automobil- und Textilindustrie abhängt. Diese Branchen gerieten als erste in die Krise. Folgerichtig beklagt die Textilbranche eine Halbierung ihrer Aufträge, stockt der Schiffbau und registrierte die Automobilindustrie samt Zulieferern im Dezember 2008 gegenüber dem Vorjahresmonat einen Produktionsrückgang um 63 Prozent.

Deutliche Anzeichen für einen Umschwung gab es bereits 2007, weil Investoren billigere Standorte in Asien und Osteuropa vorzogen. Daraufhin ging bei Büromaschinen die Produktion um 35, bei der Unterhaltungselektronik um 29,8, bei Möbeln um 13,8 sowie bei optischen und medizinischen Geräten um 11,7 Prozent zurück. Die höchsten Zuwachsraten verzeichnete in diesem Zeitraum die Immobilien- und Finanzbranche (13,7 bzw. 9,6 Prozent). In den Finanzsektor floß gut die Hälfte der ausländischen Direktinvestitionen, nur 19,2 Prozent landeten im verarbeitenden Gewerbe .

Kraftfahrzeuge, Maschinen, Eisen und Stahl stellten mit insgesamt 30,8 Prozent die wichtigsten Ausfuhrgüter. Ein massiver Einbruch des Exports war deshalb unausweichlich. Im Dezember schrumpfte er im Vergleich zum Vorjahresmonat um 21, im Januar sogar um 26 Prozent. Parallel dazu gingen die Importe um 30 Prozent zurück. Als Reaktion darauf sind Kurzarbeit und Massenentlassungen an der Tagesordnung. Nachdem die offizielle Arbeitslosenrate 2007 bis auf 8,8 Prozent gefallen war, werden bereits für den Sommer zwischen 13 und 15 Prozent erwartet.

Angesichts der wirtschaftlichen Großwetterlage braut sich über Istanbul, Izmir und Ankara einiges zusammen. Zur allgemeinen Krise kommen die strukturellen Probleme einer abhängigen Ökonomie. Der Außenhandel ist chronisch defizitär, und dieses Defizit wächst ungebremst. Seit 2005 stieg es jährlich um rund zehn Milliarden von 43,3 auf derzeit 74 Milliarden US-Dollar. Die Brutto-Auslandsverschuldung erhöhte sich 2007 von 168,9 auf 247 Milliarden Dollar. Die Regierung von Tayyip Erdogan bemüht sich derzeit beim Internationalen Währungsfonds (IWF), bei dem sie bereits mit knapp 20 Milliarden Dollar in der Kreide steht, um einen neuen Kredit. Der Preis für die »Hilfe« des IWF ist die Verpflichtung zur beschleunigten Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen. Die islamische AKP machte sich als Regierungspartei hierbei zur eifrigen Erfüllungsgehilfin. Nachdem das Privatisierungsvolumen von 1985 bis 2002 acht Milliarden Dollar betragen hatte, belief sich der Ausverkauf öffentlichen Eigentums zwischen 2003 und 2008 auf 41,9 Milliarden.

Als neuen Rettungsanker haben nun sowohl die alten kemalistischen als auch die neuen islamisch orientierten Teile der Bourgeoisie die Anrainerstaaten des Persischen Golfes entdeckt. Anfang Februar stattete Staatspräsident Abdullah Gül Saudi-Arabien einen viertägigen Staatsbesuch ab. Mit im Regierungsjet saßen Außenhandelsminister Kürsad Tüzmen und 150 Vertreter der Wirtschaft. »Unser Ziel ist es, das Handelsvolumen zwischen unseren beiden Ländern von gegenwärtig 5,5 Milliarden Dollar bis 2010 auf zehn Milliarden zu steigern«, sagte Gül zum Auftakt des Besuches. Auch für eine engere Kooperation im Rüstungssektor sei man offen. Einen Trend in diese Richtung gibt es bereits. Im vergangenen Jahr haben sich die Exporte in die Region mehr als verdoppelt. Ein besonderes Auge hat die türkische Bauindustrie auf den Irak geworfen. Da nach jedem Krieg der Wiederaufbau ansteht und das Land über großen Ölreichtum verfügt, sieht der Präsident des Türkisch-Irakischen Wirtschaftsrates, Ercüment Aksoy, hier »ein Auftragspotential in zweistelliger Milliardenhöhe«. Sollte es unter der neuen US-Administration zu einer Beilegung des Atomstreits mit Teheran kommen, erhofft man sich auch hier für 2010 eine Verdoppelung des Handelsvolumens auf 20 Milliarden Dollar.

Die türkischen Gewerkschaften lassen sich von solchen Zukunftsversprechen bislang nicht einlullen. Im Gegenteil, am 15. Februar kam es zum ersten Mal seit Jahren wieder zu einer gemeinsamen Demonstration des eher sozialpartnerschaftlich orientierten Gewerkschaftsbundes Turk-Is mit den weiter links angesiedelten Bünden DISK und KESK. Motto: »Wir werden eure Krise nicht bezahlen! Für einen gemeinsamen Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut.« An der Aktion beteiligten sich 40000 Menschen. Bei einem Mindestlohn von 527 und einem Durchschnittsentgelt von 1670 Neuen Türkischen Lira (246 bzw. 780 Euro) ist die Bereitschaft, sich weiter einzuschränken, verständlicherweise begrenzt.

* Aus: junge Welt, 26. Februar 2009


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